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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

F. Schubert - Sinfonien Nr. 3 & 4 "Tragische"
Tonhalle-Orchester Zürich - D. Zinman

(2012)
RCA Red Seal / Sony Music

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Franz Schubert - Sinfonien Nr. 3 & 4 "Tragische"

Konkurrenz für Kleiber?

von Rainer Aschemeier  •  16. Juli 2012
EAN: 88691963792 (Die labeleigene Katalog-Nr. ist deckungsgleich mit der EAN)

Wer hätte anno 1995 gedacht, dass David Zinman, der damals seine Stelle als Generalmusikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich antrat, diesen Posten sage und schreibe 17 Jahre lang ausüben würde – und ein Ende ist ja offenbar noch nicht in Sicht…

Beethoven, Schumann, Strauss, Brahms, Mahler… Zinman hat sie mit seinem Tonhalle-Orchester alle völlig neu gedeutet. Es begann mit einem spektakulären Beethoven-Zyklus, der 1999 mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde und bis heute als einer der besten am Markt gilt. Zinman hatte vorher bereits die Stationen Rochester, Rotterdam und Baltimore absolviert. Mit der London Sinfonietta glückte ihm ein überraschender Coup, als seine Einspielung der dritten Sinfonie von Henryk Górecki anno 1992 die britischen Pop-Charts aufrollte.

Als Zinman in Zürich seinen Dirigierstab erstmals erhob, hielten ihn nicht wenige für einen zwar recht ordentlichen Dirigenten, sahen in ihm aber vor allem einen „Zweitligisten“. Die ersten Aufnahmen Zinmans mit dem Tonhalle-Orchester erschienen demnach auch nicht bei einer der großen Majorlabel-Hochglanzeditionen, sondern beim 4,99€-Ableger von Sony/BMG: Dem Low-Budget-Label „Arte Nova“, das nach vielversprechendem Beginn bald erkennen musste, dass es (vor allem sich selbst) letztendlich doch ZU viel versprochen hatte und wieder vom Markt verschwand.

Doch Zinman überzeugte die Klassikwelt in Rekordgeschwindigkeit davon, dass mit ihm nicht nur zu rechnen war, sondern dass er und niemand anderes der spannendste Dirigent des ausgehenden Jahrtausends werden würde.
Zinmans Beethoven- und Schumann-Zyklen sowie die Gesamteinspielung der Orchestermusik von Richard Strauss bleiben eindrucksvolle Zeugnisse dieser Zeit, die glücklicherweise nach wie vor überwiegend erhältlich sind.
Mit seinem Brahms-Projekt wechselte dann die Partnerschaft, und RCA – die Edelsparte von Sony Classics – übernahm. Die Brahms-Sinfonien waren nun keine Schnäppchen-Produkte mehr, ebensowenig wie die Mahler-Sinfonien. Letztere gab es dafür im hochauflösenden SACD-Format.

All diese Sinfoniezyklen waren unterschiedlich erfolgreich und auch von durchaus unterschiedlicher Qualität. Doch der Mahler-Zyklus und der Beethoven-Zyklus bleiben in meinen Augen Großtaten der Tonträgergeschichte, die zu den allergrößten Meisterleistungen gehöre, die je aufgenommen wurden. Ich möchte hier nicht das Schwärmen anfangen, aber hören Sie sich zum Beispiel mal Zinmans Fassung von Mahlers Siebter an oder Beethovens „Eroica“ – das ist Weltspitzensonderspezialklasse, und ich zumindest kenne einfach nichts Besseres.

Nun also legt die schweizerisch-amerikanische Freundschaft die (zumindest laut Info im Booklet) letzte Schubert-CD vor, die somit den Schubert-Zyklus komplettiert, an dem Zinman und seine Schweizer seit 2010 gewerkelt haben. Moment mal! Komplettiert!?

Selbst wenn man beachtet, dass RCA für den vorliegenden Schubert-Zyklus die eher unkonventionelle Sinfonien-Zählung zugrunde gelegt hat, nach der die „Unvollendete“ als siebte Sinfonie gilt (zumeist wird sie als achte gezählt) und die sinfonischen Fragmente, die Schubert hinterließ nicht vorkommen, fehlen doch noch mindestens zwei gewichtige Werke: Die „große“ Neunte (müsste dann in der RCA-Zählung als Achte gezählt werden) sowie die weitaus „kleinere“ Fünfte.
Hoffen wir also, dass diese beiden Stücke noch folgen werden, denn die vorliegende CD macht unzweifelhaft Lust auf mehr!

Wer immer noch glaubt, dass die 70er-Jahre-Einspielung der dritten Schubert-Sinfonie von Carlos Kleiber mit den Wiener Philharmonikern das Maß aller Dinge sei, sollte mal Zinman und seine Züricher antesten. Hier habe ich das Gefühl, dass der Referenzststus der Kleiber-Einspielung ernsthaft in Gefahr geraten könnte – und das nicht nur wegen des konkurrenzlos guten Sounds der RCA-CD.
Zinman vereint in dieser Aufnahme alle Qualitäten, die wir von ihm und seinem Orchester bereits wohltuend gewohnt sind: Unglaublich ausdifferenzierte Dynamik, bei der selbst winzigste Nuancen filigran ausgearbeitet erscheinen, verbunden mit dem unnachahmlichen, beinahe rastlosen „Drive“, der bereits Zinmans Beethoven zum so ziemlich Besten erhoben hatte, was es gibt. Und da genau diese beiden Faktoren auch die großen großen Pluspunkte der Kleiber-Einspielung waren, bekommt Letztgenannte erstmals nach Jahren wieder ernsthafte Konkurrenz.

Besonders begeistert bin ich jedoch von der hier zu hörenden Darbietung der vierten („tragischen“) Sinfonie, die ich noch nie so vehement und „hungrig“ gehört habe. Zwar läuft diese Einspielung gelegentlich Gefahr, etwas zu „beethovenesk“ zu werden, doch steht das Schuberts Musik aber auch prächtig zu Gesicht.

Eines gefällt mir übrigens besonders: Zinman nimmt Schubert nicht als den schwelgerischen Hochromantiker, sondern er lässt ihn dort, wo er auch hingehört: In der Ausgangsperiode der Wiener Klassik. Nirgendwo wird deutlicher als hier, dass Schubert (noch) ein Klassiker war, der eigentlich „nur“ mit seinen Liedern, den späten Sinfonien („Unvollendete“ und „Große“) und Teilen seiner Kammermusik die Romantik erst aus der Taufe hob.

Schubert ist eben nicht Schumann und schon gar kein Brahms. Dieser Umstand, den viel zu wenige Dirigenten zu beachten scheinen, ist für Zinman oberstes Gebot! Es ist der dritte große Pluspunkt, der seine bisherigen Schubert-Einspielungen zum Teil hoch über die seiner Mitbewerber emporhebt.

Fazit: Was soll man sagen!? Zinman und Tonhalle bleiben eine sichere Bank, mit der sich rechnen lässt. Insofern ist die Investition in die vorliegende CD eine der besten Wertanlagen, die sich momentan machen lassen.

((Das Hörexemplar der CD für die vorliegende Besprechung wurde uns freundlicherweise von Sony Classics/RCA zur Verfügung gestellt.))

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