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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

CD-Cover Wilco Bridge

Bridge EP
Wilco

(2003)

WILCO - Status: quo vadis?

U-Turn, Überholspur oder verkehrsberuhigte Zone?

von Frank Castenholz  •  2. Oktober 2003

Vor nicht allzu langer Zeit konnten sich doch irgendwie noch alle auf Wilco einigen, oder? Mit der Doppel-LP „Being There“ (1996), spätestens aber mit „Summerteeth“ (1999) wurde Sänger und Songschreiber Jeff Tweedy mit seiner Band zum Liebling der seriösen Musikkritik; und diese Auffassung teilten sogar fast alle Musikliebhaber, die sich für die Schubladen Alt.Pop/ Alt.Country/ Americana/ Singer-Songwriter (...) begeistern konnten: „Veröffentlichung des Jahres“, „Meilenstein“, „Referenzplatte dieses Genres“ usw. – kurz: Konsens aller Orten.

Verwirrend, Konsens spaltend, polarisierend wirkte dann aber die Veröffentlichung von „Yankee Hotel Foxtrot“ (YHF) im Jahr 2002. Zumindest so interessant wie die verwinkelte Entstehungsgeschichte dieser Platte, die auf DVD dokumentiert ist (www.wilcofilm.com), so dass an dieser Stelle die Stichworte Besetzungs- und Labelwechsel genügen sollen, ist deren Wirkungsgeschichte: Während die Presse überwiegend den unkommerziell-progressiven Ansatz von „YHF“ pries – Platte des Jahres etwa beim deutschen Musik Express oder beim US-Magazin Village Voice –, verursachte sie bei Anhängern der gewohnten Americana-Feinkost einige Schluckbeschwerden. Die früheren 60ies-Harmonien, die schmeichelnd-ohrstreichelnden Arrangements am Rande der Singletauglichkeit waren mit Glenn Kotche am Schlagzeug und Jim O´Rourke (u.a. GASTR DEL SOL, SONIC YOUTH und diverse Soloalben) am Mischpult kunstvoll-künstlichen Frickelbeats und einer Geräuschkulisse gewichen, durch die der herkömmlich-eingängige Wilco-Wohlklang teils nur noch zu erahnen waren.

Im Jahre 2003 waren nun gleich mehrere Veröffentlichungen aus dem Wilco-Umfeld zu verzeichnen, die eine Vorhersage, welche Richtung der Bandsound künftig einschlägt, nicht unwesentlich erschweren. Die Indizien weisen nämlich zu gleichen Teilen auf U-Turn, Überholspur und verkehrsberuhigte Zone.

Anfang des Jahres veröffentlichte Scott McCaugheys Bandprojekt The Minus 5 die Platte „Down with Wilco (a tragedy in three halfs)“ – nun, eine Tragödie für den Hörer wohl nicht gerade, aber sicherlich auch kein Heldenstück. Bereits Ende 2001 hatte McCaughey die Wilco-Mannen ins Studio gebeten, um ihm Geleitschutz zu geben. Jeff Tweedy hat zudem arrangiert, coproduziert, an zwei Songs mitgeschrieben und bei „The Familiy Gardener“ gar die Lead Vocals geschultert. Die Musik betrachtet abermals die seeligen 60er durch die dunkelbunte Brian Wilson-Brille und kommt nahezu ohne modernistische Einsprengsel aus. Selbst das Schlagzeug von Glenn Kotche, das auf „YHF“ mit innovativer Rhythmik begeisterte, erklingt hier auffällig schüchtern und verhalten. Zu hören ist somit stimmiges Handwerk zum Badewasserklatschen und Gummientenquietschen, ein überfließend-überflüssiger Harmonieaufguss, der nur selten an „Summerteeth“ heranreicht. Gerade deshalb waren freilich die verleideten Ex-Fans versöhnt, die nach „YHF“ eine Rückbesinnung auf alte Melodieseeligkeit forderten und damit der Stagnation das Wort redeten (man lese etwa die wiederholten Wehklagen von Edo Reents in der FAZ oder die „YHF“-Kritik auf www.gaesteliste.de). Zeigt also alles in Richtung Retro?

Zur gleichen Zeit erschien „Loose Fur“, ein Projekt von Jeff Tweedy, Glenn Kotche und Jim O´Rourke, das den Sound von „YHF“ in Richtung Singer/Songwriter-Elektrolounge fortentwickelt – gekonnt austariert zwischen Melodie und Avantgarde, Beach Boys und Tortoise. Mag „Loose fur“ für so manches Kleinohr auch sperrig und unzugänglich klingen – tatsächlich ist sie nichts von allem, vielmehr genau das, was man nach „YHF“ und den Soloalben von Jim O´Rourke erwarten durfte: bei genauerem Hinhören durchaus gut konsumierbar, intelligent, aber lässig, teilweise nahezu loungig, leicht experimentell, insbesondere in der Perkussionsarbeit, „YHF“ fortführend; mit 6 Songs und knapp 40 Minuten vielleicht etwas kurz; aber von erfreulich hoher kompositorischer Strinzenz geprägt. Dass diese Melange so glanzvoll gelingt, kann kaum zu hoch veranschlagt werden. Bleibt also alles anders?

Im Mai dieses Jahres veröffentlichten Wilco nunmehr eine Kurzplatte über das Internet, die bereits der australischen Edition von „YHF“ als Bonus-Disc beigefügt war (Infos unter www.wilcoweb.com/enhanced.html). Alle Käufer von „YHF“ können sich die sechs Stücke über einen auf der CD-Hülle ablesbaren Code herunterladen und dabei auf drei verschiedene Artworks zurückgreifen, die die EP wahlweise auf den Namen „bridge“, „more like the moon“ oder „australian“ taufen.

Die EP startet mit der kraftmeierischen Rockgeste von „Kamera“, einem Outtake der „YHF“-Session, aus der die stimmigere Version bereits auf benanntem Tonträger erschien. Weiter geht es mit „Handshake Drugs“, einem verhalten melodischen Song, der nach einigen Durchgängen durchaus die Gleichgültigkeit des konzentrierten Hörers zu durchbrechen mag; ungeachtet der einfach gehaltenen rhythmischen Struktur winken jedenfalls die klirrend-atonalen Gitarrenklänge in Richtung Post Rock (oder ist das jetzt vielleicht schon post oder gar anti Post Rock?). „Woodgrain“ bleibt mit seinen 1:42 Minuten eher Skizze denn Miniatur. „A magazine called sunset“ nun, ein weiterer Song der „YHF“-Session, der es nicht auf die Platte geschafft hat: ein putziger Sonnenschein, der seine Strahlkraft auch auf „Summerteeth“ hätte entfalten können. Das von Akustikgitarre getragene „Bob Dylan´s 49th beard“ erinnert nicht nur seines Titels wegen an den amerikanischen Folkrock-Übervater, ohne aber melodisch nachhaltige Wirkung zu entfalten. Die EP schließt mit „More like the moon“, das die Wirkung von Strophe und Refrain ganz zugunsten der Akustikgitarre zurücknimmt und allein wegen der gekonnt gezupften Soli angenehm nachwirkt.

Gewiss: Zukunftsmusik ist das alles nicht, das Niveau bleibt insgesamt b-seitig. So kann die EP gewiss nicht als Wilcos nächster großer Wurf nach „YHF“ gelten, dafür fehlt es dem Material an eigenständigem Gehalt. Auch wirkt die Zusammenstellung nur bedingt kohärent. Fazit: Für den Käufer von „YHF“ eine nette Geste, für den Fan oder skeptischen Beobachter eine Verschnaufpause, bis sich die Melodien- und Klangtüftler um Jeff Tweedy entschieden haben, an welchen Enden sie nunmehr Folk, Rock, Elektronik und Avantgarde neu verknoten wollen. Auf eine Zustimmung ihrer Altfans sind sie dabei auch weiterhin nicht angewiesen.

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