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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

G. Popov - Kammersinfonie & Sinfonie Nr. 1
Staatsakademie-Orchester St. Petersburg - A. Titov

(2011)
Northern Flowers

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Gavriil Popov — Kammersinfonie & Sinfonie Nr. 1

Fantastisches "Comeback" von zwei Werken eines verfemten Komponisten

von Rainer Aschemeier  •  23. September 2011
Katalog-Nr.: NF/PMA 9996 / EAN: 4607053326048

An anderer Stelle hatte ich bereits kurz auf das schicksalhafte Leben des hierzulande fast unbekannten Komponisten Gavriil Popov Bezug genommen. Popov studierte am Leningrader Konservatorium im gleichen Jahrgang Komposition wie Dmitry Schosatkowitsch und legte als „Examensarbeit“ eine ähnlich spektakuläre Komposition vor, wie sein weitaus namhafterer Kommilitone.

Während Schostakowitsch seine erste Sinfonie zum Abschluss seines Studiums vorlegte — ein Werk, das bis heute zu den am meisten eingespielten Werken der musikalischen Moderne gehört —, widmete sich Popov dem stets undankbaren Sujet der „Kammersinfonie“. Das Werk, das er unter dieser Bezeichnung vorlegte, komponierte er als ein Septett für Flöte, Klarinette, Fagott, Trompete, Violine, Violoncello und Kontrabass. Ähnlich wie viele andere „Kammersinfonien“, so zum Beispiel von Enescu, Wolf-Ferrari oder Schreker handelt es sich dabei um ein sehr ambitioniertes Werk, das bereits vieles von dem vorausnehmen sollte, was Popov zu einem der geschätztesten Komponisten seiner Zeit machen sollte: Es war luzide und durchhörbar instrumentiert, sehr virtuos, sehr „kunstsinnig“ und dazu noch so eingängig, dass es noch im Jahr seiner Uraufführung (1926) Furore auch in der westlichen Welt machte; so wurde es zum Beispiel in kurzer Folge in Stuttgart, Paris, London und in den USA aufgeführt und erfreute sich, ähnlich wie die erste Sinfonie Schostakowitschs, größter Beliebtheit beim Publikum innerhalb und außerhalb Russlands.

Leider sollte Popovs Glück jedoch nicht lange anhalten, denn der expressive Stil des Russen, der in seiner Kammersinfonie zuweilen an Hindemith erinnert, war den Kulturoberen der UdSSR ein Dorn im Auge. Es folgte, was folgen musste: Ähnlich wie Mjaskowski und Schostakowitsch wurde auch Popov von Stalins „Kultur-Sheriffs“ gemaßregelt. Bereits einen Tag nach der Uraufführung im Jahr 1935 wurde seine erste große Sinfonie verboten. Dieses Stück ist damit die erste Sinfonie, deren Aufführung in Stalins Reich untersagt wurde. Viele weitere sollten folgen.

Es war aber auch ein gewagtes Stück, dass Popov hier zum Klingen gebracht hatte. Sieben Jahren hatte er an der Komposition gearbeitet und alles hineingepackt, was die Kulturschaffenden seiner Zeit und die Menschen auf der Straße bewegte. Sie troff von Verzweiflung, Angst und Wut. Mit einem nur ironisch freudig lärmenden Schluss-Presto machte sich Popov sogar öffentlich darüber lustig, dass eine russische Sinfonie am Schluss immer den erhabenen Sieg des Sowjetreichs programmatisch zum Ausdruck bringen sollte. Und so kam es, dass Popovs Erste nach ihrer Uraufführung sage und schreibe 73 Jahre lang nicht aufgeführt wurde, bis 2008 eine Neuaufführung und die Weltersteinspielung des Werks (seinerzeit leider wenig überzeugend: London Symphony Orchestra unter Leon Botstein auf Telarc) veranlasst wurden.

Nun folgt auf dem russischen Qualitätslabel „Northern Flowers“ eine großartige Neueinspielung beider genannter Werke, die keine Wünsche offen lässt: Das St. Petersburger Staatsakademieorchester unter der Leitung von Alexander Titov musiziert beide Kompositionen technisch brillant und absolut makellos ohne dabei die russische „Seele“ zu vergessen, die diese Musik ebenso verströmt, wie die Stücke von Popov Kommilitone Schostakowitsch. Die Aufnahme ist dazu noch absolut sensationell abgemischt und gehört mit zu den besten Orchesteraufnahmen, die ich in diesem Jahr bislang gehört habe: Fantastische akustische Auflösung, herrliche Räumlichkeit, warmer, absolut natürlicher Orchesterklang, sehr gut ausbalanciert… — es geht kaum besser! Das ist wirklich und wahrhaftig nicht nur ein musikalischer Leckerbissen, sondern auch ein Hifi-Highlight, wie man es nicht alle Tage zu Ohren bekommt. Noch ein Anwärter auf den Titel „CD des Jahres“. In diesem Jahr wird die Wahl schwer, bei so vielen guten Neuerscheinungen!

Die CDs des Labels „Northern Flowers“ sind oft nicht einfach zu finden, doch die Suche lohnt sich. Über die im Rezensionskopf angegebene EAN dürfte die Bestellung in jedem CD-Shop, der etwas auf sich hält möglich sein. Diese CD ist ein absolutes Muss für Liebhaber qualitätvoller Sinfonik der ersten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts. Gavriil Popov ist kein „Gelegenheitskomponist“ oder „Exot“, er zählt vielmehr zu den großen russischen Meistern der Moderne und muss in einem Atemzug mit Prokoffjew, Mjaskowski und Schostakowitsch genannte werden. Spitzenklasse!

Gavriil Popov sollte das Verbot seiner ersten Sinfonie zeitlebens zeichnen. Er sollte sich von der Depression, die ihn daraufhin ereilte, nie wieder ganz erholen. Nach und nach wurde er so schwer alkoholkrank, dass seine Arbeiten darunter litten. 1972 starb dieser Komponist, der einer der größten des 20. Jahrhunderts hätte werden können, wenn man ihn nur gelassen hätte…

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