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The Listener

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Polnische Blumen

Zwei hochklassige CDs zeigen auf's Neue die Klasse des lange Zeit vergessenen Komponisten Mieczysław Weinberg

von Rainer Aschemeier  •  8. Februar 2013

Mieczysław Weinberg ist ein Komponist, der zurzeit eine regelrechte Renaissance erlebt. Nicht weniger als vier Labels sind derzeit damit beschäftigt, sein umfangreiches und vielschichtiges Werk auf CDs wieder zum Klingen zu bringen: NEOS, chandos, Naxos und Grand Piano. Während sich chandos, NEOS und Naxos allesamt den Sinfonien Weinbergs widmen, ist Grand Piano in einer aufsehenerregenden Aktion dabei, das gesamte Klavierwerk des Komponisten vorzulegen.
Nun erschienen im Februar gleich zwei neue CD-Beiträge, die, wie immer wenn es um die Musik Mieczysław Weinbergs geht, die Augenbrauen nach oben schnellen lassen.

COMPLETE PIANO WORKS VOL. 4

Im vierten Teil ihrer Edition aller Weinberg-Klavierwerke (einen anderen Teil dieser Edition hatte ich hier besprochen) präsentiert uns Allison Brewster Franzetti drei eminent wichtige Werke aus dem Weinberg-Œuvre: die Klaviersonaten Nr. 3, (Op. 31), Nr. 5 (Op. 51) und Nr. 6 (Op. 73), die in den Jahren von 1946 bis 1960 komponiert wurden.

Sie zeigen sehr schön, wie vielschichtig und auch responsiv Weinberg arbeitete. Opus 31 ist ein dicht gesetztes, sehr sinfonisch wirkendes Werk, das beinahe wie eine Vorstudie zu einem Orchesterstück anmutet. Wie bei vielen Stücken Weinbergs aus den 1940er-Jahren ist eine gewisse Nähe zu Dmitri Schostakowitsch nicht zu verleugnen. Und das trifft auch auf die fünfte Sonate (Opus 51) zu, die Weinberg – laut Booklet-Information – offenbar sogar zeimlich gezielt als Reflexion auf Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen hin komponiert hat.
Opus 73 aus dem Jahr 1960 zeigt schon eine geänderte, weit eigenständigere Tonsprache. Es ist ja nicht genau bekannt, was letztendlich dazu führte, doch ab den 1960er-Jahren, in denen der Komponist sich auch geradezu schubartig mit der Gattung der Sinfonie auseinandersetzte, trat eine spürbare Veränderung in Weinbergs Kompositionsstil ein: Seine Art Musik zu schreiben wurde hörbar moderner, individueller, zuweilen auch sperriger. Gleichzeitig entstanden in dieser Zeit seine qualitativ sicherlich besten Werke, zu denen zweifellos auch die sechste Klaviersonate gehört. Sie ist ein zurückgenommenes, zuweilen beinahe minimalistisch anmutendes Stück, das eine herbe Bitterkeit ausstrahlt, aber auch sehr durchhörbar und luzide angelegt ist.

Allison Brewster Franzetti hat sich inzwischen in den Weinberg-Stil „eingespielt“, sodass man ihre Interpretation hier erneut loben kann. Der wieder einmal knochentrockene Aufnahmeklang ist hingegen womöglich nicht jedermanns Geschmack. Mir gefällt er aber recht gut, zumal er Weinbergs durchaus spröder Klavierästhetik durchaus nahe kommt.

SINFONIE NR. 8, OP. 83, „KWIATY POLSKIE“

Die Sinfonie mit dem Beinamen „Polnische Blumen“ ist bislang noch nie auf CD eingespielt worden und liegt hier als Weltersteinspielung vor. Das mag man kaum glauben, wenn man dieses phänomenale Werk hört. In der Tat würde ich so weit gehen, zu sagen, dass diese achte Sinfonie die womöglich beste der bislang auf CD verfügbaren Werke dieser Gattung in Weinbergs immerhin 22 Sinfonie-Beiträge umfassenden Werkkatalog ist.

Er schrieb sie 1964 für großes Orchester, Chor und Tenorsolisten nach Texten des polnischen Lyrikers Julian Tuwim. Zusammen mit der sechsten Sinfonie bildet die achte den Kern von Weinbergs sinfonisch stärkster Phase.
Wie dicht gewebt diese Partitur ist, wie aufregend und eigenständig sie wirkt, wie bedacht auf die russische Tradition sie gleichwohl ist – das ist ganz große Klasse!
In der Tat gehört diese Sinfonie nicht nur zu Weinbergs stärksten Gattungsbeiträgen, sondern in meinen Augen auch zu den stärksten Sinfonien der 1960er-Jahre insgesamt. Den Werken Schostakowitschs aus dieser Epoche steht sie jedenfalls in nichts nach – auch nicht in jener typisch sowjetischen „Agit-Prop-Ästhetik“, für die der Meister aus St. Petersburg unter seinen vielen Anhängern zurecht so berühmt und beliebt ist.

Es ist ein Rätsel, warum die Musik Mieczysław Weinbergs so lange so beharrlich ignoriert worden ist. Zumindest seine Mittsechziger-Phase zählt weltweit zu den wirkungsvollsten Beiträgen zur damaligen Kunstmusik – und zwar in beinahe allen wichtigen Gattungen.

Mit den Warschauer Philharmonikern und ihrem Chor unter der bewährt hochklassigen Leitung Antoni Wits hat Naxos dafür gesorgt, dass gleich die Ersteinspielung dieser herrlichen Sinfonie zu einem diskographischen Höhepunkt geraten ist. Ich persönlich kann mir gerade nicht vorstellen, wie man diese in allen Punkten herausragende Interpretation noch toppen sollte.
Das Orchester aus Warschau ist seit Langem als eines der besten Europas bekannt, Antoni Wit hat bereits mit seinen Bartók-, Lutosławski-, Mahler- und Penderecki-Einspielungen gezeigt, dass er gleichfalls zu den hervorragenden europäischen Dirigentenpersönlichkeiten zählt. Auf dieser CD stehen dieser Leistung auch Tenor Rafał Bartmiński sowie der Chor der Warschauer Philharmoniker mitsamt seinen Sopran- und Alt-Solistinnen in nichts nach.
Zusammen mit dem jederzeit auch anspruchsvolle HiFi-Gelüste befriedigenden, sehr natürlichen und zugleich süffigen Klangbild dieser Aufnahme ist die vorliegende Ersteinspielung dieser Sinfonie zugleich eine beinahe unschlagbar anmutende Referenzedition, die bleibenden Repertoire- und Interpretationswert verspricht.
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CD-Details:

Mieczysław Weinberg – Complete Piano Works, Vol. 4
Allison Brewster Franzetti
Grand Piano / Vertrieb: Naxos
Katalog-Nr.: GP611
EAN: 747313961122

CD kaufen bei NAXOS direkt

Mieczysław Weinberg – Sinfonie Nr. 8
Warschauer Philharmoniker und Chor – Antoni Wit
Tenor: Rafał Bartmiński
Naxos
Katalog-Nr.: 8.572873
EAN: 747313287376

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