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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

J. Brahms - Sinfonie Nr. 4 / B. A. Zimmermann - "Nobody knows de trouble I see"
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck - R. Brogli-Sacher

(2013)
musicaphon / Vertrieb: Klassik Center Kassel

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Johannes Brahms - Sinfonie Nr. 4 / Bernd Alois Zimmermann - "Nobody knows de trouble I see"

Sehr guter Abschluss des Lübecker Brahms-Zyklus

von Rainer Aschemeier  •  21. Juli 2013
Katalog-Nr.: M 56954 / EAN: 4012476569543

...und weiter geht es im Lübecker Brahms-Zyklus. Die ersten drei SACDs der Reihe hatte ich hier, hier und hier besprochen. Bislang waren alle SACDs des Zyklus‘ mehr oder weniger überzeugend bis sehr gut ausgefallen. Vor allem die Zweite konnte unumwunden begeistern.

Nun kommt also die schwierige Vierte ins Spiel – jenes Werk, das zu Brahms‘ Zeiten als die modernste und vertrackteste seiner Symphonien wahrgenommen wurde. Der Kritiker Eduard Hanslick beschrieb sie, als er sie das erstemal (und zwar im Klavierauszug) hörte, mit den Worten: „Den ganzen Satz über hatte ich die Empfindung, als ob ich von zwei schrecklich geistreichen Leuten durchgeprügelt würde.“ Keine Frage: Wenn Hanslick so etwas sagte, dann hatte das für Brahms vor allem eine Bedeutung: Hier könnte ein Problem lauern, die Sinfonie könnte ihr Publikum überfordern.

Demzufolge verlegte Brahms die Uraufführung vorsichtshalber lieber in die engagierte, aber etwas kleinere Musikstadt Meiningen mit ihrer damals deutschlandweit gerühmten Hofkapelle, statt gleich in Wien für (eventuell kritische) Schlagzeilen zu sorgen.

Doch die Sorge war unbegründet: Das Werk wurde von Anfang an ein Publikumsschlager. Selbiges hatte Brahms‘ Neuerungen gegenüber einfach weniger Ressentiments als die Herren Kritiker. Und Neuerungen gab es hier recht drastische: Brahms fuhr in seiner Vierten erstmals die Technik des durchbrochenen Satzaufbaus voll aus – und zwar in einer Radikalität, dass Jahrzehnte später sogar noch Arnold Schönberg sich anerkennend darüber äußerte und Brahms Vierte als eines der modernsten Werke des 19. Jahrhunderts pries.

Roman Brogli-Sacher und seine Lübecker Musiker schlagen nun exakt in diese Kerbe und präsentieren Brahms‘ Vierte als ein Stück, das noch heute modern wirkt. Mit erneut eher getragenen, nicht aber trägen, Tempi erzeugt Brogli-Sacher eine vorbildliche Durchhörbarkeit in seinem Orchester, was sich an vielen Stellen dieser dicht gesetzten Partitur sehr positiv auswirkt. Die Lübecker haben alles im Griff und lassen wieder ihren satten, vollen Brahms-Streicherklang vom Stapel – diesmal sicherer als noch in der Dritten. Die Bläser, vor allem die Holzbläser, sind eine Klasse für sich. Es besteht kein Zweifel: Roman Brogli-Sacher hat in seiner Zeit als GMD in Lübeck das Philharmonische Orchester der Hansestadt zu beeindruckender Klasse geführt.
Die Brahms-Vierte überzeugt vom ersten Moment an, und man könnte sich höchstens daran stören, dass Brogli-Sacher gelegentlich etwas gewollt pädagogisch wie mit dem Finger auf gewisse Stellen zu weisen scheint, die er in seiner Interpretation besonders markiert hervorheben möchte. Das ist im ganzen Lübecker Brahms-Zyklus spürbar, nirgendwo aber deutlicher, als in dieser Einspielung der vierten Sinfonie. Es ist ein Umstand, an den man sich gewöhnen muss, der aber vor allem Einsteigern in die Brahms-Welt manche wertvolle Hilfestellung zu geben vermag. Und Brahms-Kenner könnten sich wundern, welche Trouvaillen in dieser Partitur in Einspielungen anderer Dirigenten im Verborgenen geblieben sind.

Und erneut begeistert die „Zugabe“ auf der (wie immer sehr amtlich klingenden) SACD: Bernd Alois Zimmermanns Trompetenkonzert „Nobody knows de trouble I see“ fasziniert mit reichlich Jazz-Elementen und dem spannenden Sound einer Hammondorgel. Im Gegensatz zu vielen anderen – meist eher sperrigen – Zimmermann-Werken ist dieses Konzert unmittelbar zugänglich und auch für nicht geübte Neue-Musik-Hörer wohl problemlos hörbar. Mehr als das: Ich halte es für eines der überzeugendsten und schlicht und ergreifend schönsten Werke aus der Feder des großen Neutöners Zimmermann, der auf dem Tonträgermarkt insgesamt immer noch viel zu unterrepräsentiert ist.

Als Fazit für den gesamten Lübecker Brahms-Zyklus ist zu ziehen, dass es sich bei ihm um eines der spannenderen Großaufnahmeprojekte der letzten Jahre handelt. Für jeden „Brahminen“ sollte er oben auf der nächsten Einkaufsliste stehen, und für alle Brahms-Einsteiger ist er womöglich sogar die allererste Wahl – nicht zuletzt auch deswegen, weil alle SACDs mit zumeist sehr guten Werkeinführungstexten ausgestattet sind.

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