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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

K. Atterberg - Sinfonien Nr. 4 "Sinfonia Piccola" & Nr. 6 "Dollar Symphony"
Göteborger Symphoniker - N. Järvi

(2013)
chandos

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Kurt Atterberg - Sinfonien Nr. 4 "Sinfonia Piccola" & Nr. 6 "Dollar Symphony" / "Suite Nr. 3" / "En värmlandsrapsodi"

Erste Folge des neuen Atterberg-Zyklus von chandos offenbart erstaunliche Schwächen

von Rainer Aschemeier  •  28. März 2013
Katalog-Nr.: CHSA 5116 / EAN: 095115511626

Die Sinfonien des Schweden Kurt Atterberg (1887-1974) erfreuen sich spätestens seit der hervorragenden Gesamteinspielung des hr-Radiosinfonieorchesters Frankfurt unter Leitung des Finnen Ari Rasilainen wieder steigender Beliebtheit – und das sehr zurecht!
Im Eifer des Überschwangs der Wiederentdeckung wurde Atterberg von diversen Journalisten aber gleich wieder zu einem der wichtigsten Sinfoniker des 20. Jahrhunderts hochstilisiert, was er – unvoreingenommen betrachtet – nun wiederum nicht ist.

Seine Sinfonien sind trotzdem äußerst reizvoll, denn legt man das Augenmerk einmal primär auf den melodischen Einfallsreichtum und die Behandlung des Orchesters (Instrumentation, Orchestration) sowie den Umgang mit der sinfonischen Form, gibt es in der Tat nur vielleicht zwei Handvoll Sinfoniker, die im 20. Jahrhundert ähnlich Überzeugendes vorzuweisen hatten wie Atterberg. Und in diesem Zusammenhang darf er gern auch in einem Atemzug mit den ganz Großen seiner Zeit genannt werden: Sibelius, Nielsen, Vaughan Williams, Schostakowitsch, um nur ein paar zu nennen.

Betrachtet man aber Atterbergs Ansatz genauer, stellt man fest, dass hier jemand die „Form“ Sinfonie vor allem stil- und qualitätvoll bedient hat, nicht aber weiterentwickelt oder gar erneuert. Es werden sich auch schwerlich Werke in seinem Œuvre finden lassen, die so erschütternd wären, wie manche von Schostakowitschs Sinfonien oder so rätselhaft wie Sibelius‘ Siebte oder Vaughan Williams Sechste und Neunte oder so mit der Form ringend wie Nielsens Fünfte und Sechste oder so innovatorisch formbewusst wie Harris‘ Dritte oder auch nur ansatzweise so genial wie praktisch alle Honegger-Sinfonien.
Kurt Atterberg, das wird in diesem Vergleich klar, war eben doch nicht allererste Liga. Aber unter den „Zweitligisten“ wird man in der Tat kaum einen spannenderen, reizvolleren Sinfoniker finden als ihn.

Einige Jahre nach der zurecht viel gelobten cpo-Gesamteinspielung schickt sich nun auch das britische Label chandos an, eine Gesamteinspielung der Atterberg-Sinfonien vorzulegen. Als ausführende Instanz hat man sich die wohl besten Interpreten geholt, die man sich überhaupt nur vorstellen kann: Die Göteborger Symphoniker unter Neeme Järvi.
Järvi gilt, ähnlich wie Sir Neville Marriner, als Tausendsassa der klassischen Musik. Mit angeblich über 140 Einspielungen (vgl. dazu auch hier) gehört er zu den am meisten auf Tonträger verewigten Dirigentenpersönlichkeiten.
Er gilt aber auch als absoluter Spezialist für skandinavisches Repertoire, ebenso wie das schwedische Nationalorchester, die Göteborger Symphoniker. Die ihrerseits werden landauf landab als eines der qualitativ besten Orchester der Welt gerühmt.

Erstaunlicherweise zeigen die Göteborger unter Järvi bei der ersten SACD des Atterberg-Zyklus auf chandos nicht zu verhehlende Schwächen. Und dies betrifft insbesondere die vergleichsweise populäre sechste Sinfonie, die als „Dollar Symphony“ bekannt ist, weil Atterberg mit ihr in den späten 1920er-Jahren einen internationalen Kompositionswettbewerb gewann. Gleich in der ersten Minute des ersten Satzes wird klar: Die Göteborger sind hier rhythmisch nicht sattelfest. Die auf Spannung hin komponierte Eröffnung der Sinfonie zerlegen sie rhythmisch in ihre Einzelteile, wobei insbesondere die Bratschen, Celli und Bässe sowie das Blech keine besonders gute Figur machen. Die Perkussionisten haben ebenfalls erstaunliche Probleme mit der Rhythmik, vor allem im ironisch-fidelen dritten Satz. Durch die gesamte Sinfonie (auch durch den rhythmisch nicht besonders anspruchsvollen, sanft-düster idyllischen und melodisch ungemein schönen zweiten Satz) wirken die Göteborger Symphoniker so, als würden sie sich hier über die Distanz retten, nicht aber die Partitur souverän meistern.
Besser ist das Ergebnis in der vierten Sinfonie, die – als „Sinfonia piccola“ bekannt – ebenfalls auf dieser SACD zu hören ist. Hier stimmt die Rhythmik durchaus.
Was die Sechste angeht, empfehle ich ernsthaft Interessierten übrigens die absolut faszinierende Toscanini-Aufnahme derselben mit dem NBC Symphony Orchestra.

Insgesamt hinterlässt diese SACD einen eher zwiespältigen Eindruck. Natürlich ist da die Unwiderstehlichkeit des süffigen Järvi-Sounds, die unnachahmliche Weltklasse der Göteborger Holzbläser, dieses gewisse skandinavische „Look and Feel“, das so vielleicht nur die Göteborger unter Järvi hinbekommen. Aber da sind auch nicht zu verhehlende Schwächen an ganz erstaunlichen Stellen der Partitur, denn – mal ehrlich – Atterbergs Sechste ist nun spieltechnisch beileibe nicht eines der anspruchsvollsten Werke der musikalischen Weltliteratur. Klar gibt es hier und da rhythmische Kunstgriffe, um das Werk interessant zu machen. Doch da müssten die Göteborger eigentlich drüber stehen und in der Lage sein, ihre unbestreitbare orchestrale Weltklasse voll auszuspielen. Das ist hier aber leider nicht der Fall.

Klare Sache: Trotz einiger unbestreitbar positiver Aspekte vermag diese Neuproduktion der Atterberg-Sinfonien Nr. 4 und 6 insgesamt nur moderat zu begeistern. Alles ist hier nach dem Motto gestrickt „schon sehr gut, hat man aber aus Göteborg auch schon mal besser gehört“. Das gilt auch für das Klangbild, das sich ganz auf Järvis tief-mittenbetonte Süffigkeit im Orchesterklang konzentriert. Dabei bleibt leider die Transparenz etwas auf der Strecke. Baden im Luxusklang der Streicher ist hier das Motto. Auch in diesem Punkt: Beileibe nicht schlecht, aber auch das gab’s schon mal besser.

Ich bin also gespannt, wie es weitergeht in dieser als Gesamteinspielung angelegten Reihe von Atterberg-Sinfonien. Vielleicht vermögen es die Göteborger unter Järvi ja doch noch zu alter Höchstform aufzulaufen. Es wäre zu wünschen. Diese SACD beweist: Da ist noch „Luft nach oben“.

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