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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

R. Schtschedrin - "Anna Karenina"
Orchester des Bolschoitheaters - Y. Simonov

(2012)
Melodiya / Vertrieb: codaex

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Rodion Schtschedrin - "Anna Karenina"

Eine der faszinierendsten Wiederentdeckungen der letzten Jahre!

von Rainer Aschemeier  •  9. März 2013
Katalog-Nr.: MEL CD 10 02054 / EAN: 4600317120543

An dieser Stelle möchte ich noch einen 2012-“Nachzügler“ besprechen, der in good old Germany aber eh erst seit Februar 2013 auf dem Markt ist. Es handelt sich um eine Doppel-CD mit dem Ballett „Anna Karenina“ des russischen Ausnahmekomponisten Rodion Schtschedrin. Jener feierte letztes Jahr bekanntlich seinen 80. Geburtstag, weswegen dieser großartige Komponist endlich auch „im Westen“ einmal gebührend gewürdigt wurde.

In der Tat halte ich Rodion Schtschedrin für einen der wichtigsten, inspiriertesten und auch handwerklich besten lebenden Komponisten. Die allermeisten „allgemeinen“ Klassikhörer hierzulande kennen ihn gar nicht, und die „Fachleute“ sind ihm gegenüber oft voreingenommen. Warum? Weil Schtschedrin seit Anbeginn seiner Karriere tonal – zwar stark erweitert tonal, aber eben tonal – komponiert und sich mit den avantgardistischen Strömungen des 20. Jahrhunderts nie großartig aufgehalten hat (weitere Infos zu Schtschedrin siehe auch hier).

Ist so jemand nicht reaktionär?
Nun, in diesem Fall muss man zweierlei ins Auge fassen. Erstens: Den schwierigen Karriereweg des Komponisten, der zu Zeiten der Sowjetdiktatur seine Ausbildung und einen Großteil seiner Karriere durchlief. Noch bis in die Achtzigerjahre musste jeder in der UdSSR mit Repressalien rechnen, der im Verdacht stand, avantgardistische Strömungen zu verfolgen. Das sollte man also stets in Betracht ziehen, wenn man sich dazu aufschwingt, über die ach so konservativen russischen Komponisten dieser Zeit zu urteilen.

Zweitens muss man einmal tief eintauchen in die musikalische Sprache Schtschedrins. Und da wird man feststellen, dass dieser Mann keineswegs als reaktionär bezeichnet werden kann. Vielmehr müsste man ihm – mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen in der internationalen Kunstmusikszene – sogar attestieren, regelrecht zukunftsweisend komponiert zu haben, und das bereits seit Ende der 1960er-Jahre, also schon seit Ende seiner ersten Werkperiode.

Man vergleiche doch einmal Schtschedrins Musik mit jener von Thomas Adès beispielsweise (nur, um einmal einen der allseits gefeierten Jungstars der Neue-Musik-Szene zu nennen), und man wird feststellen, dass viele der musikalischen Mittel, die bei Adès als innovativ bejubelt werden, bei Schtschedrin schon dreißig Jahre zuvor an der kompositorischen Tagesordnung waren. Nur kommt Adès als „Neu-Tonaler“ gar nicht erst in den Verdacht, reaktionär zu schreiben, während Schtschedrin verrückterweise ebendiesen Vorwurf nicht loszuwerden scheint.

Wie dem auch sei: Mit der vorliegenden Aufnahme von „Anna Karenina“ liegt die Wiederveröffentlichung der Weltersteinspielung eines der Hauptwerke dieses fantastischen Komponisten aus den 1970er-Jahren vor. Schtschedrins Ballett widmet sich (unschwer zu erraten) thematisch dem bekannten und berühmten Roman Leo Tolstois und greift sehr bildhaft und mit programmatischer Plakativität Szenen aus dessen Handlungsverlauf auf. Selbst für den stets um keinen programmatischen Kunstgriff verlegenen Schtschedrin ist diese Musik ungewöhnlich konkret und bildreich. Wie kommt das?

Der Komponist hatte kurz zuvor die Filmmusik zu einer „Anna Karenina“-Verfilmung fertig gestellt. Diese Filmmusik bildete nun also die Grundlage für das hier zu hörende Ballett. Später sollte Schtschedrin die Musik noch ein drittes Mal umarbeiten, um sie als sinfonisches Großwerk drittverwerten zu können.
Bei der hier aufgenommenen Ballettfassung bediente sich Schtschedrin aber eines ganz besonders reizvollen Kniffs, nämlich der Einbeziehung eines Orchesters hinter der Bühne. Das ergibt eine akustisch irritierende, immer wieder eingesetzte und sehr reizvolle „Fern“-Wirkung, die auf dieser fabelhaften Einspielung in faszinierender Weise eingefangen wurde.
Für viele Liebhaber russischer Musik wird ferner interessant sein, dass der Komponist in diesem Ballett stellenweise über Musik von Pjotr Tschaikowsy reflektiert, und zwar aus jenen Werken Tschaikowskys, die zur Entstehungszeit des Romans „Anna Karenina“ geschrieben wurden – noch so eine witzige und kreative Idee, für die man Schtschedrin nur beglückwünschen kann.

Beglückwünschen darf man wohl auch das russische Melodya-Label, das mit dieser in jeder Hinsicht grandiosen Aufnahme eine der faszinierendsten Wiederveröffentlichungen der letzten Jahre auf den Markt gebracht hat. Das Bolschoi-Orchester unter der Leitung von Yuri Simonov spielt dermaßen perfekt, dass man es – polemisch formuliert – kaum glauben kann, es hier mit einem russischen Orchester der frühen Siebzigerjahre zu tun zu haben. Gleiches gilt für den extrem transparenten, vor allem im Blech schön „knalligen“ Aufnahmeklang, der wohl das Beste darstellt, was ich vom klanglich bekanntlich nicht immer treffsicheren ehemaligen Staatslabel der UdSSR je gehört habe. Zwar fehlt es etwas an Tiefbass – dies zumal bei dem Riesenorchester, das Schtschedrin hier auffährt -, doch ist alles andere über dem Tiefbassabgrund so vorbildlich aufgenommen, dass es die helle Freude ist. Für eine russische Aufnahme aus dem Jahr 1972 ist das ein sensationeller Spitzensound, den ich auch vierzig Jahre danach noch enthusiastisch bejubeln muss!

Eine besondere Erwähnung verdient übrigens obendrein noch das sehr informative Booklet sowie das grafisch außerordentlich kreativ und schön gestaltelte Klapp-Digipak dieser Veröffentlichung.

Fazit: Kaufen! Diese Aufnahme ist Pflicht!

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