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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

M. Weinberg - Sinfonie Nr. 19 Op. 142 & "Die Banner des Friedens" Op. 143
St Petersburg State Symphony Orchestra - V. Lande

(2012)
Naxos

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Mieczysław Weinberg - Sinfonie Nr. 19 "Lichter Mai" Op. 142 & "Die Banner des Friedens" Op. 143

Naxos' Kollektion auserlesener Weinberg-Sinfonien bleibt hochklassig

von Rainer Aschemeier  •  21. November 2012
Katalog-Nr.: 8.572752 / EAN: 747313275274

Würde man mich bitten, das größtmögliche Gegenteil von „Hintergrundmusik“ zu definieren, würde ich wohl als Beispiel die Sinfonien Mieczysław Weinbergs anführen. Insbesondere dessen Spätwerke in dieser Gattung zählen zu den wohl anspruchsvollsten Kompositionen des 20. Jahrhunderts. In ihrer unverhohlenen Schroffheit sind sie zudem ein extremes Beispiel eigenbrödlerischer Individualität, wie man sie extremer wohl höchstens noch bei Gian Francesco Malipiero finden kann.

Mieczysław Weinberg war Mitte der 1980er-Jahre, zu der Zeit, als die auf dieser neuen Naxos-CD enthaltene Musik entstand, bereits ein verbitterter, von der Welt um ihn herum nahezu vergessener Komponist, der wahlweise als kompositorisches Fossil, als Störenfried oder schlicht als belanglos abgetan wurde.
Erst mit seinem Tod im Jahr 1996 oder noch später erkannte die Welt, welch bedeutender Komponist hier jahrelang weitgehend ignoriert eine Sinfonie nach der anderen vorgelegt hatte. Einige seiner Sinfonien sah Weinbergs Kompositionsgenosse Dmitri Schostakowitsch als derart herausragend an, dass er sie als Studienbeispiele für seine Kompositionsklasse nutzte.

Derzeit werkeln drei Plattenfirmen separat voneinander an der Einspielung der Weinbergschen Sinfonien: Das Münchener Neue Musik-Label NEOS, das britische Label chandos und Naxos, aus deren Weinberg-Zyklus hiermit bereits die zweite Veröffentlichung vorliegt. Das St Petersburg State Symphony Orchestra unter Leitung Vladimir Landes erledigt, ähnlich wie beim letzten Mal wieder einen fabelhaften Job.
Die zerklüftete, intervallreiche und rhythmisch vertrackte Musiksprache von Weinbergs 19. Sinfonie ist beileibe keine einfach zu realisierende Angelegenheit, doch das Orchester aus St. Petersburg erledigt seine anspruchsvolle Aufgabe gleichermaßen virtuos wie emotional geschlossen. Die Sinfonie mit der Opuszahl 142 und dem irreführenden Beinamen „Lichter Mai“ bildet den Abschluss einer Sinfonientrilogie (Sinfonien Nr. 17-19), mit denen Weinberg den Zweiten Weltkrieg – in der Terminologie der Sowjets als „Großer vaterländischer Krieg bezeichnet“ – thematisierte. Der Mai ist hier also nicht in seiner sozialistischen Symbolik (für die der Mai ja ebenfalls einen bedeutsamen Monat darstellt) gemeint, sondern als der Monat, der aus sowjetischer Sicht den Weltkriegssieg bedeutete.
Diesen Aspekt im Hinterkopf behaltend, kratzt man sich um so mehr am Kopf, wenn man sich dem Werk als Hörer nähert – handelt es sich bei Weinbergs 19. Sinfonie doch um ein zutiefst beklemmendes Werk, das so gar nicht von etwaigen propagandistischen Jubelfanfaren geprägt ist. Ganz im Gegenteil: Wenn dies der Abschluss des Zweiten Weltkriegs in Weinbergs musikalischer Weltsicht ist, dann ist es ein Kriegsende primär geprägt von Schmerz, Verzweiflung, Verlust und Desillusion und insofern wohl deutlich „ehrlicher“ als viele der säbelrasselnden Kriegssinfonien seiner sowjetischen Komponistenkollegen.

Mit Op. 143, der sinfonischen Komposition „Die Banner des Friedens“, tischt uns Naxos hier noch einen sehr willkommenden Nachschlag auf. Das Stück entstand als einer von insgesamt nur zwei offiziellen Kompositionsaufträgen vonseiten der sowjetischen KP, was einmal mehr offenlegt, dass Weinberg vonseiten der Apparatschiks kein sonderliches Wohlwollen zu erwarten hatte. Zum 27. Kongress der Kommunistischen Partei in Auftrag gegeben, bekommen wir hier ein typisches sowjetisches Propagandastück zu hören: Pompös, mäßig modern, gewollt grandios und in einem Idiom, das auch die Sowjetoberen verstehen konnten. Musikalisch ist es damit deutlich weniger spannend als Weinbergs sperrige 19. Sinfonie, die gerade erst beendet war, als sich der Komponist daran machte, die „Banner des Friedens“ in Musik zu gießen. Aber gerade dieser Kontrast zwischen beiden Werken ist der „Aha-Effekt“, den sich musik- und kulturhistorisch interessierte Hörer zunutze machen können, um eines der spannendsten Musikerlebnisse unserer Tage weiterzuverfolgen: Die Wiederentdeckung der Sinfonien Mieczysław Weinbergs.

Im Vergleich zur Sinfonie Nr. 6, die im Frühjahr von denselben Kräften eingespielt wurde, die auch auf dieser neuen CD wirken, ist der Aufnahmeklang leider erkennbar moderater ausgefallen und ist in diesem Fall sicher nicht höchsten Lobes wert. Gleichwohl ist der Klang in jeder Hinsicht amtlich, sodass diese CD wohl niemanden wirklich enttäuschen wird, obwohl sie nicht gleich zur HiFi-Speerspitze zählt. Was das Interpretatorische hingegen angeht, zählt diese Scheibe erneut zur absoluten Oberliga, und Naxos lässt damit erneut die Mitbewerber chandos und NEOS hinter sich, zumal die in Sachen Aufnahmeklang bisher auch nur moderate Ergebnisse vorzuweisen hatten (Beispielrezension s. u. a. hier).

Fazit: Die Weinberg-Kollektion bei Naxos bleibt hochklassig und wird uns hoffentlich noch viel Interessantes in den heimischen CD-Player befördern.

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