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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

C. Nancarrow - late and unknown - works on rolls
Ampico Player Piano

(2012)
Wergo

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Conlon Nancarrow - late and unknown: works on rolls

Genie oder Scharlatan - ein akustischer Einblick in die durchgeknallte Musikwelt des Conlon Nancarrow

von Rainer Aschemeier  •  22. Oktober 2012
Katalog-Nr.: WER 6754 2 / EAN: 4010228675429

Noch heute kommt es einem ja manchmal über die Lippen, wenn die Musik des US-amerikanischen Komponisten Conlon Nancarrow erklingt: „Wow, wie irre ist das denn!?“
Leider war dies ziemlich genau das Urteil, das Nancarrows Zeitgenossen über ihn fällten: Irre, der Mann!

Conlon Nancarrow, 1912 geboren, 1997 verstorben, gehört zu jener Genration experimentierfreudiger Freigeister, der unter anderen auch John Cage angehörte. Während Cage seine individuelle musikalische Freiheit darin suchte, traditionelles Instrumentarium zunächst zu präparieren, später dann ganz zu verwerfen, war Nancarrow rein instrumental gesehen, eher ein Traditionalist.
Von ihm gibt es Werke für klassische Kammermusikbesetzungen, vor allem aber für das Klavier. Elektronische Musik á la Cage? Fehlanzeige!

Ein ganz praktisches Problem hatte Nancarrow aber schon früh in seiner kompositorischen Laufbahn: Die Musik, die er im Kopf hatte und auch in Noten fasste, war unaufführbar – im Sinne des Wortes. Pianisten sind auch nur Menschen – und sie haben somit weder drei oder vier Arme, noch wären sie in der Lage, irrwitzige Intervallsprünge von den tiefsten Bereichen der Klaviertastaur bis zu den höchsten in fortlaufenden 64tel-Noten zu bewältigen.
Aber Nancarrow hatte doch genau diese Musik im Sinn! Was konnte man da nur tun? Sollte er etwa die Musik, die er gern komponieren wollte, nur deshalb nicht komponieren, nur weil sie kein Mensch auf Erden spielen konnte? Sollte die reine Physiognomie des menschlichen Körpers seiner Kunst im Wege stehen? Oder sollte er – wie einst der Pionier der US-Moderne Charles Ives in dessen Spätwerk – dazu übergehen, rein theoretische Musik zu schreiben, Musik, von der er bereits im Moment der Kreation wusste, dass sie nie würde erklingen können…

Conlon Nancarrow war kein Mann der Kompromisse, und so stieß er auf eine Technik, die eigentlich bereits zu seiner Zeit veraltet war: Das Player-Piano! Einst stand es im sogenannten „Wilden Westen“ in den Saloons und spielte wie von Zauberhand schmissige Tanznummern und sentimentale Cowboy-Balladen. Dies wurde durch gelochte Papierrollen bewerkstelligt, die – ähnlich wie die Lochkarten der allerersten Computersysteme – dem mechanischen Klavier anzeigten, welche Töne wann, in welcher Lautstärke und in welcher Geschwindigkeit auf der Tastatur zu erklingen hatten. Nancarrow brachte sich bei, wie man selbst Rollen für sein Player-Piano lochen konnte. Es wurde fortan seine Form der Komposition – Komponieren ohne Noten! Denn: Wozu brauchte man den jetzt noch Noten? Spielen konnten das Menschen ohnehin nicht. Das Player-Piano aber konnte!

Auf der jüngsten CD-Veröffentlichung des Mainzer wergo-Labes erklingt es wieder: Das originale Marshall & Wendell Ampico Player-Piano aus dem Nachlass Conlon Nancarrows. Mit den von des Komponisten eigener Hand gefertigten Rollen, spielt es dessen Musik heute exakt genau so, wie sie Conlon Nancarrow einst selbst komponiert und erstmals gehört hatte.
Auf dem Album gibt es eine Weltersteinspielung „Unnumbered Study for Player Piano (canon 3:4:5:6)“ sowie mehrere Ersteinspielungen der Nancarrow-Werke auf dem eigenen Player-Piano des Komponisten.

Diese CD zieht einen von Beginn an in ihren Bann: Sie leitet direkt in die auch heute noch ziemlich durchgeknallt wirkende musikalische Welt des Conlon Nancarrow. Heute gilt der einerseits als einer der maßgeblichen Pioniere der globalen Musikmoderne, andererseits aber auch als singulärer Ausnahmefall der Musikgeschichte. Keine Frage: Conlon Nancarrow war ein Unikum, ein Sonderling, ein Kauz und letztendlich auch ein Einsiedler. In der Wüste von Mexiko (Nancarrow war wegen linkspolitischer Aufmüpfigkeiten aus den USA verwiesen worden – ein typisches Opfer der McCarthy-Ära) kreierte er fortan seine musikalischen Seltsamkeiten, die noch heute zu frappieren wissen.

War Nancarrow auch ein Genie, wie György Ligeti meinte? Oder war er, wie die Musikwissenschaft bis in die 1990er-Jahre sich noch ziemlich einig war, ein zwar interessanter, aber im Wesentlichen dilettantischer Komponisten-Scharlatan?

Kaum eine CD-Veröffentlichung könnte dazu besser geeignet sein, sich selbst ein bild zu dieser Frage zu machen, als die neue von wergo! Deren Klang ist arg trocken, aber ansonsten vorbildlich – eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks. Und was die Interpretation angeht: Es gibt keine. :-) Ein Player-Piano spielt immer gleich – genau so, wie der Komponist es für richtig hielt.

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