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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Phoenix
English Chamber Orchestra, B. Wallfisch; E. Pailthorpe (Oboe)

(2011)
Champs Hill Records / note 1

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Patterson, Vaughan Williams, Howells - Oboenkonzerte

Tolle Zusammenstellung von konzertanten Oboenwerken aus Großbritannien

von Rainer Aschemeier  •  1. Dezember 2011
Katalog-Nr.: CHRCD025 / EAN: 5060212590268

Die vorliegende CD bietet eine schöne Zusammenstellung konzertanter Werke für Oboe und Orchester aus Großbritannien — mit einigen bemerkenswerten Ungewöhnlichkeiten: Das beginnt bereits bei der Vermarktung der CD. Ohne Zweifel sind Orchester und Dirigent bei dieser Einspielung die „zugkräftigen“ Namen. Trotzdem wird die relativ unbekannte walisische Oboistin Emily Pailthorpe hier ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Und das durchaus zurecht…

Doch beginnen wir von vorn: Die vorliegende CD, die unter dem plakativen Titel „Phoenix“ erscheint, enthält das wunderschöne und bereits oft eingespielte Oboenkonzert von Ralph Vaughan Williams, dem wohl bedeutendsten britischen Sinfoniker aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es steht im Zentrum eines Programms, das von zwei ungewöhnlichen Kompositionen eingerahmt wird. Das erste Stück auf dieser CD ist das vergleichsweise brandneue (2009) „Phoenix concerto“, Op. 102 des hierzulande praktisch unbekannten britischen Komponisten Paul Patterson. Das letzte Werk ist eine in meinen Augen sensationelle Transkription der (viel zu) selten zu hörenden Oboensonate von Herbert Howells, der vor allem als Komponist von Oratorien und Chorwerken (am bekanntesten dürfte wohl „Hymnus Paradisi“ sein) Furore machte und ein guter Freund von Ralph Vaughan Williams war.

Darstellung der Phönix-Sage in einer Nürnberger Chronik aus dem 15. Jahrhundert. Bildquelle: wikimedia commons


Das „Phoenix Concerto“ eröffnet mit Klängen, die an den Expressionismus der 1920er- und 30er-Jahre denken lassen und kann daher schwerlich als „modern“ bezeichnet werden. Es ist eher ein musikalischer Anachronismus. Wer darüber jedoch hinwegsehen kann, wird an dem Stück durchaus seine Freude haben: Ein von chromatischen Kabinettstückchen durchsetzter erster Satz im Fahrwasser von Paul Hindemith leitet über in ein weitgehend tonales, sehr lyrisches Tranquillo, das seine britische Provenienz mit jeder Note förmlich „ausatmet“. Das abschließende Allegro molto kehrt zu den chromatischen und (dezent) atonalen Klängen zurück, die schon den Beginn des Werks ausgezeichnet hatten. Vielleicht ist diese verbindende „Klammer“ auch die namensgebende Idee: Der sagenhaft-allegorische Vogel Phönix stieg ja auch aus seiner eigenen Asche wieder zu alter „Form“ beziehungsweise zu noch strahlenderer Größe auf.

Vaughan Williams‘ Oboenkonzert ist so oft am Markt vertreten, dass man die vielen fantastischen Einspielungen dieses Stückes kaum zählen kann. Zu den wegweisenden Interpretationen dürften unter anderem die der Academy of St. Martin-in-the-Fields unter Sir Neville Marriner (DECCA), die sagenhaft schöne des (auch auf der hier besprochenen CD zu hörenden) English Chamber Orchestra unter Daniel Barenboim (Deutsche Grammophon) und die für mich beste des English String Orchestra unter William Boughton (mit dem großartigen Marice Bourgue an der Oboe auf dem Label Nimbus) zählen. Die Konkurrenz ist also stark. Doch die hier neu erschienene Aufnahme kann mit der erwähnten Spitzengruppe durchaus mithalten. Zwar sind die verwendeten Tempi ungewöhnlich langsam, doch das steht Vaughan Williams‘ lyrischem und neoklassischen Konzert bestens zu Gesicht. Emily Pailthorpe meistert (wie schon im „Phoenix Concerto“) ihren Part absolut mühelos. Ihr Ton könnte bei diesem Stück, das viel von Vaughan Williams‘ Studien bei Maurice Ravel in sich trägt, gelegentlich durchaus etwas „emotionaler“ sein, doch das ist kein wirklicher Kritikpunkt.

Das eigentliche Highlight kommt zum Schluss: Herbert Howells‘ ausdrucksstarke und sperrige Oboensonate aus dem Jahr 1942 wird auf dieser CD zum ersten Mal als Transkription für Solooboe, Streichorchester und Harfe vorgestellt. Und das ist nun wirklich super! Benjamin Wallfisch, Dirigent der vorliegenden Aufnahme, ist bekanntlich auch ein zurecht prominenter Komponist zahlreicher Soundtracks von Hollywood-Blockbustern wie etwa „Brothers Grimm“, „V wie Vendetta“ und „Stolz und Vorurteil“. Diese Routine merkt man der Transkription der Howells-Sonate mit jedem Ton an. Der absolute Geniestreich (ich muss es so bezeichnen, weil es wirklich ein sensationelles Gesamtergebnis ergibt), eine Harfe dem Orchester an die Seite zu stellen, kann nicht genug gelobt und hochgeschätzt werden. Die Harfe fungiert bei der Übertragung der Sonate auf den Orchestersatz im engeren Sinne als „Klavierersatz“, was erstaunlich gut funktioniert. Zudem ist die Klangmelange aus Streichorchester, Oboe und Harfe einfach zauberhaft. Das könnte kaum schöner sein. Howells hervorragende Komposition, die gewissermaßen die „Antithese“ zu Vaughan Williams‘ heiler, melodienseliger Welt des Oboenkonzerts darstellt, gehört mit zum Besten, was wir von diesem weithin unterschätzten britischen Komponisten kennen.

Noch eine Besonderheit: Diese Aufnahme wurde nicht wie sonst beim Label „Champs Hill Records“ üblich, im Konzertsaal von Champs Hill in Sussex mitgeschnitten, sondern wurde stattdessen in der renommierten Henry Wood Hall in London aufgezeichnet, in der das Royal Philharmonic Orchestra und die Academy of St. Martin-in-the-Fields sonst gern ihre CDs mitschneiden. Klanglich ist das Ergebnis, das in diesem Fall auch nicht wie sonst von „Champs Hill Records“-Tonmeister Alexander van Ingen aufgenommen wurde, sondern durch Andrew Mellor, der mir vor dem Erscheinen dieser CD bislang unbekannt war, zwar ebenfalls sehr gut, kann jedoch nicht den sonst extrem hohen „Champs Hill“-Standard halten. Die ganze Aufnahme wurde von der Tontechnik sehr konsequent auf einen weichen, „samtigen“ Ton geeicht. Das hat leider Defizite bei Auflösung und räumlicher Tiefenstaffelung zufolge. Das ist zweifellos schade, doch es ist auch Jammern auf hohem Niveau. Das, was ich hier als „schwächeren“ Sound im Vergleich zu anderen „Champs Hill Records“-CDs bezeichne, ist immer noch überzeugender als die meisten Neuerscheinungen anderer Labels, insbesondere die der „großen Drei“ EMI, Deutsche Grammophon und Sony Classics.

Fazit: Kaufen! Ein Rundum-Genuss fast ohne Abstriche mit einer äußerst wertvollen Repertoirebereicherung (Howells-Transkiption).

((Das Hörexemplar der CD zu dieser Besprechung wurde uns freundlicherweise vom Vertrieb des Labels, der Firma „note 1“, zur Verfügung gestellt.))

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