Go to content Go to navigation Go to search

The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

R. Saxton - The Wandering Jew
BBC Symphony Orchestra, A. de Ridder, div. Sol.

(2011)
NMC / note 1

• • • •

Robert Saxton — The Wandering Jew

Effektreiches Technikspektakel mit toller Musik und schwachem Libretto

von Rainer Aschemeier  •  14. Oktober 2011
Katalog-Nr.: NMC D170 / EAN: 5023363017022>

Die mythologische und allegorisch-metaphorische Figur des „wandernden Juden“ ist eine faszinierende kulturgeschichtliche Erscheinung, die sich bis auf eine Legende des 13. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Laut dieser Legende soll ein Jude namens Ahasver Jesus Christus auf dessen Leidensweg zum Kreuzigungsberg Golgatha verspottet haben, worauf Jesus ihn mit einem Bann belegt habe, demzufolge Ahasver von jenem Zeitpunkt an bis zur Wiederkunft des jüngsten Gerichts ruhelos auf Erden umherstreifen musste.
Freilich ist Ahasver eine Metapher für das jüdische Volk an sich, das sich seit Tausenden von Jahren immer wieder Verfolgungswellen ausgesetzt sah und ähnlich der mythologischen Figur seither „ruhelos“ und in alle Winde verstreut auf dem Erdball hin und her „wandert“.

Während es einige Figuren in der jüngeren Operngeschichte gibt, deren Charakter auf die Mythologie des „Wanderjuden“ Bezug nimmt (so etwa in Janáčeks „Die Sache Makropulos“), ist Robert Saxtons Oper „The Wandering Jew“ meines Wissens nach die erste seit dem 19. Jahrhundert, welche die legendäre Überlieferung wieder „wörtlich“ nimmt, also den ewigen Juden als Person und Individualcharakter versteht. Den Höhepunkt in der Verarbeitung nach diesem Verständnis hatte bislang Jaques Fromental Halévys Oper „Der ewige Jude“ nach dem gleichnamigen Roman von Eugène Sue gebildet. Doch der britische Komponist Saxton hat mit seinem selbstgeschriebenen Libretto gute Chancen, als die „neue Referenz“ zu gelten, was die Personalisierung der mythologischen Figur Ahasvers angeht.

Saxton legte das Stück als „Radio-Oper“ an, die im Auftrag der BBC geschrieben wurde. Dies hat zur Folge, dass die hier zu besprechende, von der BBC produzierte Aufnahme mit technischen Tricks aufwartet, die auf einer Opernbühne so nicht umsetzbar wären; darunter munteres „Bäumchenwechseldich-Spiel“ der Stimmen im Stereo-Mix von links nach rechts und wieder zurück (was nicht unbedingt zur Wiedererkennbarkeit der Rollen beiträgt), ausgedehnte „Hörspielparts“ mit eigens engagiertem Schauspielerensemble und eine wohl absichtlich nicht „naturnah“ gestaltete Klangkulisse. Diese Operneinspielung versucht gar nicht erst vorzutäuschen, dass es sich um eine Live-Einspielung handeln könnte. Ganz im Gegenteil: Die Aufnahme „outet“ sich durchaus absichtlich als Ergebnis ausgefeilter Radio-Studiotechnik.

Ob man das gut findet, ist Geschmackssache, doch letzten Endes ist das nur konsequent für einen Komponisten, der sein Stück im Untertitel „Radiooper“ genannt hat. Die Musik von Saxtons Oper stellt sich ganz in die glorreiche Tradition britischer Sinfonik sowie die ebenfalls recht beachtliche Geschichte der britischen Oper im 20. Jahrhundert. Sie erinnert zuweilen stark an die Tonsprache eines Michael Tippett, ist jedoch stellenweise noch etwas konservativer und lässt sogar Anklänge an die Opern von Ralph Vaughan Williams aufkommen.
Ist Saxtons Stück deswegen aber rückwärtsgewandt? Das würde ich nicht so sagen. Saxtons Libretto zum Beispiel ist nach dem Vorbild der Dramaturgie moderner Spielfilme gestrickt, bedient sich dramaturgischer Kniffe, wie „Flashbacks“ und „Cliffhangern“, die man aus Kino und Fernsehspiel kennt — ...was ein weiterer Grund dafür ist, warum dieses Werk auf einer Opernbühne wohl keine besonders günstige Figur machen würde.

Kritiker werden mokieren, dass Saxton einem innovativen, avantgardistischen oder auch nur halbwegs irgendwie gewagten Ansatz auf beiden Ebenen (Musik und Text) komplett und geplant aus dem Weg ging und ein Werk vorlegte, dass man durchaus als populär, manche werden sagen zu populär, abstempeln kann. Diese Kritik lasse ich aber nur zum Teil durchgehen. Sicher hat man schon Zukunftsweisenderes gehört, doch Saxton ist es mit „The Wandering Jew“ durchaus gelungen, ein gemäßigt modernes Werk in vielleicht routinierter aber dennoch hervorragender musikalischer Qualität mit zudem äußerst gelungener Orchestration zu kreieren. Das bereits in der Komposition angelegte Bekenntnis zur Studiotechnik, bei denen einigen Rollen qua Partitur elektronische Verfremdungseffekte und/oder Hall-Effekte mit auf den Weg gegeben wurden, ist zudem ein spannender Ansatz, den ich mir durchaus öfter wünschen würde, da er doch erstaunliche elektronische Ausdrucksmittel zur Verfügung stellt, die denjenigen Komponisten, die nach wie vor rein akustisch komponieren, eben nicht zur Verfügung stehen.

Ein großer Kritikpunkt in meinen Augen ist jedoch die inhaltliche Qualität des Librettos, die nicht nur schlicht und ergreifend über ganze Strecken platt und überplakativ ist (Saxtons Oper beginnt gleich mit einem sehr klischeehaften „Knalleffekt“, indem er die Geschichte im Nazi-Konzentrationslager beginnen lässt), sondern stellenweise geradezu lächerlich (Der Aufstieg des Antisemitismus beispielsweise wird durch die „Wiedergeburt“ des nordischen Gottes Odin versinnbildlicht, der natürlich gleich auch eine eigene Singrolle bekommt — diesen geradezu grotesken Rückfall ins Barockzeitalter, wo die sprichwörtliche Wiedergeburt von Gottheiten auf der Opernbühne ja an der Tagesordnung war, hätte sich Saxton nicht nur ersparen können sondern müssen).

Wer über die (drastischen!) Librettoschwächen hinwegsehen kann, bekommt in „The Wandering Jew“ jedoch eine erfreulich gut geschriebene Oper, die richtiggehend Spaß macht und — von vorn herein als Medienerlebnis konzipiert — in dem hier vorliegenden klanglich großartigen BBC-Mitschnitt aus dem Jahr 2008 vor der Hifi-Anlage zu einem tatsächlich fesselnden Erlebnis werden kann. Bis auf Teresa Cahill, die mit der Rolle der „Mutter“ gesanglich durch die Bank überfordert ist und so wirkt, als sänge sie dauernd und durchgehend an der absoluten Grenze ihrer Möglichkeiten, ist das Ensemble dieser Aufnahme hervorragend besetzt. Und das bezieht sich nicht nur auf die einzelnen Gesangsleistungen, sondern vor allem auf die durchaus komplexen Duett- und Terzettstellen, die Saxton seinen Figuren in die Partitur geschrieben hat. Das BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von André de Ridder trifft den idealen Ton für die Musik und weiß offenbar ganz genau, dass „The Wandering Jew“ von Robert Saxton in Sachen Bläsern von dem hier zutage gelegten „old school“-Ansatz britischer Spätromantik enorm profitiert.

Fazit: Sicher nichts für Anhänger der musikalischen Avantgarde, doch für diejenigen, die nichts gegen eine Moderne haben, die sich aus der britischen Spätromantik speist, ein musikalischer Sahnehappen und zudem ein mediales Großereignis. In Sachen Libretto tut man aber besser daran, nicht allzutief in Saxtons schlicht platte Deutung des gewichtigen Mythos vom wandernden Juden einzutauchen.

((Das Hörexemplar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise vom Vertrieb des Labels, der Firma „note 1“, zur Verfügung gestellt.))

Stöbern

Verwandte / ähnliche Artikel:

Archiv

Alle Reviews können im Archiv nachgeschlagen werden. Dort ist auch eine gezielte Suche möglich.