Go to content Go to navigation Go to search

The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Lysøen - Hommage à Ole Bull
Nils Økland & Sigbjørn Apeland

(2011)
2011

• • • • •

Nils Økland & Sigbjørn Apeland — Lysøen - Hommage à Ole Bull

Die Geschichte vom geschwundenen Weltruhm des Geigers Ole Bull

von Rainer Aschemeier  •  30. August 2011
Best.-Nr.: ECM 2179 / EAN: 0602527402468

„Lysøen – Hommage à Ole Bull“ ist vor allem anderen eine ziemlich merkwürdige Platte. Sie widmet sich ganz der Musik des hierzulande praktisch unbekannten norwegischen Komponsten Ole Bull — und auch wieder nicht.

Ole Bull lebte von 1810 bis 1880. Er war bekannt als Violinvirtuose und arbeitete unter anderem mit Franz Liszt. Mit 18 Jahren missglückte ihm die Lateinprüfung zur Aufnahme zum Theologiestudium in Kristiania (dem späteren Oslo). Sein Professor schrieb: „Wir finden Sie wenig geeignet in Finmark Pfarrer zu werden. Wir sind der Meinung, Sie sollten in die Welt hinaus reisen.“ Einen schöneren „Rausschmiss“ kann man sich kaum vorstellen. Möglichweise ist dies Ole Bull gerade recht gekommen. Auf diese Art und Weise hatte er es quasi „offiziell“. Denn jemand, der mit 14 Jahren bereits die Capricen von Paganini (immerhin zu Bulls Zeit noch als „Teufelsgeiger“ tituliert) „drauf“ hatte, war womöglich auch nicht wirklich willens, den Priesterberuf zu ergreifen.
Bull entwickelte einen wohl sehr kantablen Personalstil auf der Geige, der das Publikum zu Beifallsstürmen hingerissen haben muss. 1843 war der europäische Kontinent zu klein für den Virtuosen, der nun Konzerte in Nordamerika gab, in der „Neuen Welt“.

Ole Bull, dessen Musik diese CD insprierte, setzte sich auch mit kommunalsozialistischen Ideen auseinander. Er wollte gar einen eigenen Staat namens "Oleana" gründen — auf 3.000 Hektar umfassendem Territorium, das er den USA abkaufte. Schon nach zwei Jahren waren auch diese Träume gescheitert. Bildquelle: wikimedia commons

Bull reiste quer durchs ganze Land, von New York bis San Francisco und New Orleans. Sogar in Kanada gastierte der junge Violinvirtuose und begeisterte auch dort die Menschen. 70 eigene Kompositionen soll Bull vollendet haben, von denen heute gerade mal noch zwei, drei Handvoll erhalten geblieben sind. Musikwissenschaftler vermuten deshalb, die Zahl „70“ sei insofern nicht ganz korrekt, als dass es sich womöglich bei vielen von Bulls eigenen Werken um Bearbeitungen von Kompositionen anderer Komponisten gehandelt haben könnte.

Der norwegische Geiger Nils Økland hat nun aus der Not, nur wenige gesicherte Originalwerke Bulls zur Verfügung zu haben, eine Tugend gemacht. Statt die Stücke originalgetreu wiederzugeben, entschloss er sich in Kooperation mit seinem Duettpartner Sigbjørn Apeland, der ihn auf Piano und Harmonium begleitet, zu einem ungewöhnlichen Ansatz. Er nahm Bestandteile aus Ole Bulls eigenen Werken und improvisierte über sie nach Herzenslust. Die Stücke wurden per elektrischer Geige verfremdet oder in klassischer Violine-Klavier-Kombi so kontemplativ traurig interpretiert, dass man meinen könnte, man hätte es hier mit Musik zu tun, die ihre Wurzeln irgendwo in der Neofolk-/Alternative Country-Bewegung hätte. Wenn Apeland dann noch zum Harmonium greift, statt zum Klavier, dann schwebt man plötzlich in einem musikalischen Gemüse, irgendwo zwischen indischem Raga, norwegischem Folk, Massive Attack und Josh T. Pearson (vgl. http://www.incoda.de/listener/reviews/176/josh-t-pearson-last-of-the-country-gentleman). Von 19. Jahrhundert ist jedenfalls nicht viel übrig geblieben.

Und so ist dies eben die CD, die sich ganz der Musik Ole Bulls verschrieben hat — und eben auch wieder nicht.

Es sind exakt diese Platten, die zwischen allen Stühlen die Freiheit an der Musik neu ausloten, die das Leben als Musikhörer auch weiter spannend machen. Ein großartiges Experiment und eine herrliche Hommage an einen heute vergessenen Weltstar von einst. So melancholisch, wie man angesichts des total geschwundenen Weltruhms von Ole Bull werden kann, so melancholisch ist das Album „Lysøen“.

Über Aufnahmeklang braucht man bei ECM nicht reden: Man weiß, dass es einfach immer spitze klingt!

Wärmstens empfohlen! Schon wieder eine ECM-CD, die wir mit der Höchstnote von 5 Punkten entlassen können.

Stöbern

Verwandte / ähnliche Artikel:

Archiv

Alle Reviews können im Archiv nachgeschlagen werden. Dort ist auch eine gezielte Suche möglich.