Go to content Go to navigation Go to search

The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

The Lviv Lute
Ensemble Sarmatica

(2011)
Sono Luminus

• • • •

Sarmatica — The Lviv Lute

Herrlich musikpolitisch unkorrekte, folkloristich-schmissige Deutung einer der wichtigsten europäischen Lautenmusiksammlungen. Leider mit Masteringfehler!

von Rainer Aschemeier  •  13. August 2011
Best.-Nr.: DSL-92134 / EAN: 05347921342

Eine der erfreulichsten, weil in dieser Konsequenz völlig unerwarteten CDs des laufenden Jahres kam im Juli vom Label Sono Luminus (vormals Dorian classics). Es handelt sich um das unscheinbar als „The Lviv Lute“ betitelte neue Album des russisch-amerikanischen Lautenisten und Universitätsprofessors Oleg Timofeyev und seinem Ensemble „Sarmatica“.

Mit „The Lviv Lute“ ist eine Lautentabulatur gemeint, die in der Universität von Lemberg (ukrainisch = Lwiw) aufbewahrt wird, aber auch als Krakauer Lautentabulatur bekannt ist, da es höchstwahrscheinlich ist, dass die Sammlung ab ca. 1553 bis ins frühe 17. Jahrhundert hinein in Krakau zusammengestellt wurde. Diese Lautentabulatur ist gleich aus mehreren Gründen besonders: Erstens ist sie eine von lediglich vier komplett erhaltenen Lautenmusiksammlungen, die aus dem Territorium des ehemaligen „Ostblocks“ bekannt sind. Zweitens enthält sie neben den zu erwartenden Stücken osteuropäischer Provenienz ungewöhnlicherweise überraschend viele Werke von Musikern aus dem äußersten Westen des europäischen Kontinents, so zum Beispiel von den Küstenregionen Westfrankreichs oder sogar Dowland-Kompositionen aus England. Drittens schließlich kann man anhand dieser Tabulatur wohl verfolgen, wie mit dieser westlichen Musik verfahren wurde, denn diese wurde von den Schöpfern der Krakauer Lautentabulatur des Öfteren mit typisch osteuropäischen Verzierungen und Melodien für die Bedürfnisse des polnischen Einsatzgebiets „aufgepeppt“. Ein früher Fall von „Ethno-Music“ könnte man also sagen…

Oleg Timofeyev und sein Ensemble „Sarmatica“ gehen die Wiederbelebung dieser Musik dann auch genau in diesem Sinne an: Die Lautenmelodien dienen in den allermeisten Fällen lediglich als Leitlinien, um die herum Timofeyev und co. eine eigene, teilweise sehr üppige Instrumentation generieren, die vom Höreindruck mehr das Flair einer Balkan-Folklore-CD vermittelt als das einer „Alte-Musik“-Einspielung. Das ist zwar „music-politically“ hochgradig „not correct“, ...aber es macht wirklich unheimlich Laune da zuzuhören!
„Sarmatica“ gelingt es, diese Musik auf ihre Art und Weise tatsächlich wieder mit Leben anzufüllen. Man versteht plötzlich, warum und wie die Menschen der Renaissance zu diesen Liedern tanzen, saufen und schwoofen konnten, warum sie mit anderen Melodien ihren Liebeskummer trösteten und sich unter Anwendung von wieder anderen neu verliebten. Diese Neuerscheinung ist keine verknöcherte „Alte-Musik-CD“, dies ist vielmehr der Versuch, ein lebendiges musikalisches Sittengemälde Osteuropas aus der Zeit um 1600 zu zeichnen. Hin und wieder schießt man sicherlich über’s Ziel hinaus; immer dann zum Beispiel, wenn die Melodien aus der Lautentabulatur auch gesungen werden und mit Texten aus der ukrainischen Folklore unterlegt werden (denn es scheint klar zu sein, dass die ursprüngliche Lautentabulatur nie dafür gedacht gewesen war, auch gesungen zu werden). Diese Vokaldarbietungen werden dazu noch im traditionellen, deklamierenden Stil der russischen/ukrainischen Folklore dargeboten. Wer sich fragt, wie das klingt: Das kennt man als „Ottonormal-Mitteleuropäer“ am Ehesten aus Fernsehdokumentationen über die russisch-orthodoxe Kirche. Es ist ein sehr archaisch wirkender Gesangsstil, den man schlecht beschreiben kann.

Alles in allem ist „The Lviv Lute“ jedoch eine echte Offenbarung, denn selten hat knapp 500 Jahre alte Musik so lebendig geklungen. Man könnte meinen, dass man solche Klänge vielleicht noch heute finden könnte, wenn man sich in abgelegenen Dörfern irgendwo im rumänischen Siebenbürgen oder vielleicht auch am sibirischen Baikalsee nur lange genug umhörte. Der Baikalsee ist zwar geographisch mindestens so weit weg von Krakau, wie das Ensemble „Sarmatica“ in puncto Aufführungstradition sich auf seiner CD vom überlieferten Tabulaturinhalt der Krakauer Lautentabulatur entfernt, aber es ist nun einmal der Eindruck, der sich mir aufdrängt. Das gesamte musikalische Programm besticht mit einer erstaunlichen Schlüssigkeit, die wie gesagt nicht von einer etwaigen historisch korrekten Aufführungspraxis kommen kann. Das Gegenteil ist der Fall! Ich denke, „Sarmatica“ haben hier zum einen das richtige Händchen und zum anderen den nötigen Mut dafür gehabt, die Stücke aus Krakau so weitgehend umzuinterpretieren, dass es nun „Sarmatica“-Stücke sind. Und wenn wir mal ehrlich sind: Hätten es die fahrenden Musikanten der Renaissance nicht wohl ganz genau so gemacht: die Melodie übernehmen und den „Rest“ auf ihre persönlichen und regionalen Bedürfnisse anpassen? Ich glaube, Oleg Timofeyev und seine Mitmusiker sind am Ende vielleicht gar nicht soooo weit von der „Wahrheit“ entfernt, wie es manche Kritikerkollegen ihnen sicherlich vorwerfen werden.

Klanglich ist diese CD allerdings ein tragischer Fall: Man hört ganz deutlich, dass hier ein hervorragender Tonmeister am Werk war: Die Instrumente sind sagenhaft brillant und natürlich eingefangen worden. Durch den ungewöhnlichen Aufnahmeort (einer Höhle des als UNESCO-Welterbe geführten, berühmten Höhlenklosters von Kiew) ergab sich zudem ein geradezu idealer Naturhall, der die Aufnahme auf höchst angenehme Weise zusätzlich „ätherisiert“. Aber (!) anscheinend ist beim CD-Mastering irgendetwas grandios schiefgegangen, denn alle Tracks (!) der CD sind übersteuert!!!! (Das hört man auf der CD eigentlich zu jeder Zeit, insbesondere aber bei den Vokal-Darbietungen. Mir fehlt die Masse an Ausrufezeichen, mit der ich meine Enttäuschung hier gern untermauern würde). Mal ehrlich: Wie geht denn so etwas??? Nicht nur, das so eine Panne bei einer professionellen Musikproduktion (zumal von einem Label, das sich auf seiner Website neuerdings selbst zu einer Art High-End Hifi-Label erklärt hat) keinesfalls vorkommen dürfte; nein, es ist mir auch schleierhaft, wie das im Zeitalter der digitalen Musikproduktion überhaupt technisch möglich ist.
Wie dem auch sei: Durch dieses „Clipping“ wird der an sich gute Soundeindruck nahezu zunichte gemacht. Aber eben nur nahezu… Man kann es schon noch mit Genuss anhören. Aber es ärgert einen jedesmal, wenn man die CD in den Schacht des CD-Players schiebt. Es bleibt zu hoffen, dass dieser technische Fauxpas bei eventuellen Folgeauflagen vonseiten des Labels Sono Luminus noch korrigiert werden kann; ehrlich gesagt glaube ich aber nicht daran.

Wäre dieser massive Masteringfehler nicht, gäbe es von mir eine glatte Höchstwertung. So jedoch heißt es leider: Knapp daneben ist auch vorbei. Wer an den Klang allerdings nicht allerhöchste Ansprüche anlegt, erhält hier eine ganz tolle, teilweise nachgerade „schmissige“ CD mit wunderschöner und individuell interpretierter Musik, die einem irgendwo auf dem schmalen Grad zwischen Folklore und Renaissance wirklich das Herz aufgehen lässt.
Ja, das hier ist keine Kopfmusik, das ist eher was für Herz und Bauch. Eine echte Überraschung im sonst so stromlinienartigen Musikwischiwaschi eben. Bitte mehr davon, und dann bitte ohne klangtechnisches Eigentor!

Stöbern

Verwandte / ähnliche Artikel:

Archiv

Alle Reviews können im Archiv nachgeschlagen werden. Dort ist auch eine gezielte Suche möglich.