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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

"Declamatory Counterpoint"

Das Album-Debüt des Dirigenten und the-listener.de-Autors Christoph Schlüren und des Streichorchesters "Symphonia Momentum"

von Ulrich Hermann  •  27. Januar 2014
Katalog-Nr.: Gramola CD 98004 / EAN: 9 003643 980044

Auf dieser ungewöhnlichen CD des 20-köpfigen Streichorchesters „Symphonia Momentum“ unter dem Dirigenten Christoph Schlüren sind Entdeckungen zu Hauf, angefangen von der symphonischen Fassung des F-moll-Streichquartetts von Reinhard Schwarz-Schilling, über den Beginn des „Dissonanzen-Quartetts“ in der Bearbeitung für Streich-Orchester von Mozart, über zwei Stücke für Streicher bzw. Violine solo von den beiden Zeitgenossen Peter Michael Hamel und dem Schweden Anders Eliasson, dazu Orient & Occident von Arvo Pärt und zum Abschluss die „Cavatina“ aus dem Streichquartett op. 130 von Ludwig van Beethoven!

Welch ein Bogen! Und welche unerhörten Klänge und Musiken! Stücke, die man zu kennen meint, wie den Beginn des Dissonanzen-Quartetts, entpuppen sich auf dieser CD als das, was sie in Wirklichkeit sind: Kein lieblicher Mozart, den man doch…. Nein, es wird klar, wie verstört die Zeitgenossen über solch eine Musik gewesen sein müssen, wenn uns diese Kühnheiten selbst noch heute erschrecken können. Im Zusammenhang mit den zeitgenössischen Stücken von Hamel, Eliasson und Pärt sind sie mehr als passend. Umso genauer hört man diesen Klängen zu. Überhaupt ist der Klang dieses Orchesters – über das Zustandekommen der Gruppe und über vieles mehr gibt das Booklet, wie bei Booklets von Christoph Schlüren Usus, umfassend Auskunft – sehr ungewöhnlich. Besonders gut tut der Musik das in die Tiefe des fünfsaitigen Kontrabasses verlegte Fundament.

Es ist den hohen und höchsten Klängen ein ganz anderes Spektrum geboten, was sich beim Vergleich der Streichquartett-Fassung mit der Fassung für Streichorchester bei einigen Werken ja erleben lässt.
Dass Musik nichts mit Interpretation zu tun haben muss, sondern sehr viel mehr mit Wahrhaftigkeit der Phänomena des Klanges und der melodischen und harmonischen Spannung, das lässt diese CD in allen Stücken bemerkenswert hörbar werden.

Zu den einzelnen Stücken:
Mit dem 1932 in Innsbruck vollendeten Streichquartett von Reinhard Schwarz-Schilling (1904-85) in der Streichorchesterfassung beginnt die CD gleich mit einem musikalischen „Paukenschlag“. Die dreisätzige, fast 41 Minuten lange Komposition, ein Meisterwerk des deklamatorischen Kontrapunkts, (so Christoph Schlüren im Booklet) fesselt den Zuhörer nicht nur durch den bewegenden Klang des Streichorchesters – es besteht aus „nur“ 20 Musikerinnen und Musikern –, sondern auch durch die expressive Struktur der melodischen und harmonischen Linien. (Besonders in der geradezu verwegenen Fuge ist das zu hören und zu spüren). Es gibt eben doch die ununterbrochene musikalische Entwicklung von Bach bis Schönberg und Kaminski, und darüber hinaus bis Schwarz-Schilling oder Karl Amadeus Hartmann im 20. Jahrhundert. Dafür ist diese Komposition ein beeindruckendes Beispiel. Es gibt der CD auch den wundervollen Schwerpunkt, den die anderen Stücke weiterführen, kontrapunktieren oder ergänzen, bis hin zur Cavatina aus dem Streichquartett op.130 von Beethoven aus dem Jahr 1825. Dieses Stück rührte seinen Schöpfer wieder und wieder zu Tränen, wie Beethoven es selbst beschreibt.
„Ulisono“ für 14 Solostreicher schrieb der Münchner Komponist und Musiker Peter Michael Hamel in memoriam für seinen Mitkomponisten-Freund Ulrich Stranz (1946-2004) auf Anregung von Christoph Schlüren, der auch die Uraufführung im November 2010 leitete.
Eine äußert intensive Komposition, beginnend wie ein Trauermarsch, dann kommt Bewegung in die Textur, immer wieder unterbrochen durch Soli auf der Bratsche, wunderbar klar und frei vorgetragen von Helmut Nicolai. (Ulrich Stranz war Bratschist). Bis diese transparent leichte Trauermusik im hellen pianissimo verklingt.
„In Medias“ von Anders Eliasson (1947-2013) – ihm ist „in memoriam“ auch diese CD gewidmet – ist eine fast sieben Minuten lange Komposition für Violine solo von 1971, revidiert vom Komponisten 1992. Nach einem fanfarengleichen Beginn im fff entfaltet sich diese Musik immer wieder von den tiefsten Geigentönen bis in die höchsten Regionen in einer berückenden Klangrede vor dem Zuhörer. Alles wirkt so gelassen selbstverständlich und schön, dabei ist die Kunst, solch ein Solo-Werk für Violine zu schreiben und zum Erklingen zu bringen, mit das Schwierigste, dem sich ein Komponist stellen kann. Natürlich ist Eliassons Tonrede nicht zum Weghören gedacht, man muss sich auf die unglaublich expressiven Klänge intensivst einlassen, dann entfaltet sich ein faszinierender deklamatorischer Kontrapunkt, wie er ja schon vor Bach auch auf einem Instrument wie der Violine von manchen Vorgängern komponiert wurde. Für das Stück existiert zudem in YouTube eine prachtvolle Möglichkeit, Ohr und Auge zugleich am Entstehen dieser Musik teilhaben zu lassen. Wie Rebekka Hartmann – deren unglaubliches Violinspiel auf ihrer Stradivari ich unlängst wieder einmal staunend und ergriffen erleben durfte – in einem klaren schwarz-weissen Rahmen das „In Medias“ von Anders Eliasson wachsen und sich entwickeln lässt, ist einfach sagenhaft. Und lässt außerdem etwas vom „Schwedischen“ in Eliassons Musik „rüberkommen“ (Noch dazu unterstreicht ein wunderschönes weißes langes Kleid mit wenigen Applikationen die Aktionen der Geigerin auf das Schönste)
Wie wenig „Material“ dem Komponisten Arvo Pärt genügt, um seine geradezu hypnotischen und ikonenhaften Werke zu erschaffen, erkennt man auch an seinem Stück „Orient & Occident“ von 2002. Mit Glissandi und kurzen Melismen wird die Musik des Orients wachgerufen, während die klangliche Harmoniestruktur dem Okzident verpflichtet ist. Unterbrochen durch viele Generalpausen zieht einen dieses Stück, das hier erstaunlich fließend gelingt, in seinen Bann und verklingt ebenfalls im fast Unhörbaren.
So beschließt die Cavatina von Beethoven mit ihrem geradezu himmlischen Adagio und ihrer aus unirdischen Höhen zu uns kommenden, alle Taktbeschränkungen schwerelos transzendierenden Melodie diese bemerkenswerte CD und nimmt uns mit auf eine musikalische Reise, in der die Jahrhunderte, die zwischen den einzelnen Kompositionen und ihren Schöpfern liegen, keinerlei Rolle mehr spielen; Musik aus der Stille, aus der sie kommt, kehrt zurück in die Stille.
Dass das Musizieren auf diese bemerkenswerten CD so lebendig und leibhaftig zu hören ist, schuldet das Orchester nicht zuletzt seinem Dirigenten Christoph Schlüren, der, in allen Bereichen der „Phänomenologie der Musik“ (ausgehend von Sergiu Celibidache, einem seiner Lehrer) erfahren und geübt, seinen Spielern die Augenblicklichkeit des Tones und des Klangs so nahe gebracht hat, dass dieser gedehnte Moment des „Musica in statu nascendi“ hörbar und erlebbar wird. Und was kann es für die Musik Schöneres, Lebendigeres und Besseres geben?
————CD-Details:

Reinhard Schwarz-Schilling (1904-85): Symphonie für Streichorchester nach dem Streichquartett f-moll (1932); W.A. Mozart (1756-91): 1. Satz Adagio – Allegro aus dem ‚Dissonanzen’-Quartett C-Dur KV 465, Fassung für Streichorchester; Peter Michael Hamel (*1947): Ulisono für 14 Solostreicher (2010); Anders Eliasson (1947-2013): In medias für Violine solo (1971); Arvo Pärt (*1935): Orient & Occident (2000); Ludwig van Beethoven (1770-1827): Cavatina aus dem Streichquartett op. 130, Fassung für Streichorchester

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