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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

M. Weinberg - Sinfonie Nr. 21 / Polnische Lieder Op. 47,21
Siberian Symphony Orchestra - D. Vasilyev

(2014)
toccata

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Mieczysław Weinberg - Sinfonie Nr. 21 / Polnische Lieder Op. 47,21

Erneut fantastische Ergänzung zur Weinberg-Diskografie

von Rainer Aschemeier  •  17. Juli 2014
Katalog-Nr.: TOCC 0193 / EAN: 5060113441935

Es ist ja schon einfach ganz unglaublich, was in den letzten Jahren in Sachen Mieczysław Weinberg passiert ist: Da ist ein Komponist, vergessen von der Welt. Und plötzlich findet jemand heraus, dass man ihn auch ganz gut als so eine Art „Schostakowitschs Erbe“ vermarkten könnte – und das klappt!

Es klappt so gut, dass sich inzwischen drei Labels um die erste Gesamteinspielung von Weinbergs Sinfonien balgen, von denen der Komponist immerhin 21 (nummerierte) Exemplare hinterlassen hat, neben mindestens einer unnummerierten Sinfonie und diversen Sinfoniettas und Kammersinfonien.
Nun tritt zu diesem illustren Grüppchen, zu dem witzigerweise bislang alle “...os“-Labels (NEOS, chandos und Naxos) gehörten noch das britische Label für Jäger und Sammler, toccata, hinzu. Zwar glaube ich nicht, dass toccata ernsthaft im Sinn hat, noch eine Gesamteinspielung von Weinbergs Sinfonien anzuzetteln (wo ja schon die anderen Labels damit nicht fertig werden), aber toccata hatte auf jeden Fall den richtigen Riecher mit der Ersteinspielung von Weinbergs 21. Sinfonie, die den Beinamen „Kaddisch“ trägt, womit auf eines der wichtigsten Gebete des Judentums angespielt wird.

toccata hatte deswegen den richtigen Riecher, weil es sich mit diesem Stück um Weinbergs allerletzte Sinfonie (aus dem Jahr 1991) handelt, bei der noch einmal klar wird, was für ein grandioser Komponist dieser Mann war, und wie ergreifende und handwerklich in diesem Stadium absolut perfekte Musik er komponiert hat.
Weinberg verarbeitet in dieser Sinfonie – wie schon in anderen Werken aus seiner Karriere – ein Choralmotiv, das er laut eigener Aussage schon seit den Tagen seiner allerersten Sinfonie im Herzen trug und immer wieder einsetzte. Man kann mit Fug und Recht vermuten, dass wir hier ein ähnliches „Schicksalsmotiv“ haben, wie das im Werk Schostakowitschs immer wiederkehrende „D(E)sCH“-Thema.
Die Sinfonie ist nach einer Phase, in der Weinberg besonders sperrige, z.T. verbittert und eigenbrödlerisch wirkende Werke komponiert hatte (z.B. die Sinfonie Nr. 20), eine Rückkehr zu einer eher tonalen, und in manchen Passagen beinahe kontemplativen Tonsprache.

Ganz klar sind hier Einflüsse des Werks von Alfred Schnittke hörbar, vielleicht sogar von Arvo Pärt. Doch natürlich ist die Sinfonie alles in allem Weinberg pur – und zwar at his very best! Womöglich werden sich einige daran stören, dass die Eröffnung der Sinfonie, die auf reduzierte Streicherbesetzung setzt und eine Solovioline in den Mittelpunkt des Geschehens stellt, stark an die Sinfonie Nr. 12 „in memoriam D. Schostakowitsch“ erinnert. Womöglich werden es einige Hörer eher enttäuschend oder gar rückständig finden, dass Weinberg nach den sehr expressiven Sinfonien der letzten Werkperiode in seinem allerletzten Stück dieser Gattung noch einmal etwas ganz und gar eingängiges komponiert hat.

Doch müsste man dann konsequent missachten, wie gut gemacht diese Musik ist. Etwa der sparsame, aber immer wohlüberlegte, äußerst spannende Einsatz der Soloinstrumente. Vor allem ein obligater Klavierpart überrascht immer wieder durch außergewöhnliche Klangfarben und faszinierende Effekte. Vor allem die nur gelegentlich eingestreuten kammermusikalischen Duette von Violine und Klavier jagen einem wirklich Schauer über den Rücken: Wer das komponiert hat, war ein Meister der Orchestrierung und ein Komponist, der imstande war, ungewöhnlich ergreifende Musik zu komponieren.
Die Sinfonie vermittelt über ihre gesamte Dauer eine sehr intime, persönliche Aura – ganz ähnlich und doch ganz anders als etwa Schostakowitschs letzte, 15. Sinfonie. Während Schostakowitsch in seinem letzten Sinfoniestück nicht ohne Sarkasmus, Ironie und Bitterkeit auskam, ist Weinbergs 21. Sinfonie zwar einerseits voller Trauer, aber andererseits vor allem auch geprägt von einer großen Versöhnungsbereitschaft. Nur: Versöhnung mit wem? Das bleibt unklar. Man kann dieses Werk als Weinbergs Wiederannäherung an Mystik und Religiosität deuten oder als bewegende Versöhnungsgeste an das Leben, das ihm so schwer mitgespielt hatte (Weinbergs gesamte Verwandschaft war in den KZs der Nazis umgekommen, er selbst wurde unter Hitler und nochmals unter Stalin interniert, seine Musik war unter Stalin zweitweise geächtet und geriet später noch zu seinen Lebzeiten beinahe völlig in Vergessenheit).
Es gibt zwar auch an Schostakowitsch gemahnende Quasi-Jazz-Ausflüge mit Xylophon im vierten Satz (Presto) des insgesamt sechssätzigen Werks, doch erscheinen diese Passagen nicht wie bei Weinbergs Komponistenfreund als Ausdruck von sarkastischer Ironie.

Interessant sind übrigens auch die eingebauten musikalischen Zitate aus Werken anderer Komponisten. Da kann man von Mahler bis Chopin fündig werden, und es erscheint mir merkwürdig, warum der Booklettext diesen Umstand mit keinem Wort erwähnt.
Das Stück schließt mit einem geisterhaften Lento, das eine vokalisierende Sopranstimme beinhaltet, die Variationen der Violinmelodie vom Werkbeginn vorträgt. Hier stellen sich noch einmal alle Nackenhaare senkrecht. Zuguterletzt taucht noch ein Harmonium (?) in den letzten Minuten der Sinfonie noch auf. Immer wieder versteht es der Komponist uns zu überraschen.

Auf der CD finden sich zudem die „Polnischen Lieder“ Op. 47,21. Diese Komposition zählt eher zum „leichteren“ Weinberg, dem wir z.B. auch die Sinfoniettas und manches Agit-Prop-Stück zu verdanken haben. Ich persönlich bin kein großer Anhänger dieser Musik, die stets den Beigeschmack von vermeintlich sowjetkonformer Kompositionspraxis vermittelt. Das Booklet allerdings klärt uns über die schwierigen Umstände der Komposition auf. Übrigens sind die vier Stücke Orchesterkompositionen (also ohne Gesang).

Das Siberian Symphony Orchestra hatte schon anno 2012 auf einer grandiosen toccata-CD mit sinfonischer Musik Vissarion Schebalins einen sehr guten Eindruck hinterlassen (übrigens wurde uns Hörern damals eine ganze Reihe mit Schebalin-Musik versprochen – wo bleibt die bitteschön, liebes toccata-Label???). Auf dieser Weinberg-CD hat sich das Orchester aber selbst übertroffen: Wie viele Soloparts sind in dieser Musik, und das für ganz unterschiedliche Instrumente! Und alle, wirklich alle – zum Teil überdies schwierig zu realisierenden – Soloparts sind ausgezeichnet eingespielt worden. Der Klang geht in Ordnung, die Phrasierung ist vorbildlich. Auch die Sopranistin Veronika Bartenyeva hinterlässt einen tollen Eindruck.

Fazit: Fast alle bisherigen Sinfonieeinspielungen der Musik Mieczysław Weinbergs – egal von welchem Label – waren ausgesprochen gut. Diese CD-Produktion ist jedoch eine von den allerbesten. Und das bezieht sich erfreulicherweise nicht nur auf die Einspielung, sondern auch auf die Komposition selbst. Der Aufnahmeklang zählt nicht unbedingt zur HiFi-Elite, wird aber auch niemanden enttäuschen. In diesem Sinne: Eine im höchsten Maße empfehlenswerte Produktion!

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