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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Johannes Brahms - Werke für Chor und Orchester
BR-Symphonie-orchester - Sir Colin Davis, N. Sultzmann (Alt)

(1993/2014)
newton classics / Vertrieb: membran

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Johannes Brahms - Werke für Chor und Orchester

Phänomenales Album, hier jedoch mit indiskutablem Booklet-Text

von Rainer Aschemeier  •  30. Januar 2014
Katalog-Nr.: 8802103 / EAN: 8718247711031

Der im Frühjahr 2013 verstorbene Dirigent Sir Colin Davis hat eine ungewöhnliche Karriere gehabt. Er begann als Autodidakt, quasi als eine Art „Hobby-Dirigent“, erhielt dann ein Studien-Stipendium, etablierte sich danach zunächst als Dirigent von Rundfunkorchestern und kleineren britischen Opernhäusern, um dann relativ plötzlich voll durchzustarten als langjähriger erster Gastdirigent des Boston Symphony Orchestra sowie als Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks und als „heimlicher Chefdirigent“ der Staatskapelle Dresden – auch wenn er den Titel des Musikdirektors dort nie offiziell führte.

Seine Einspielungen für Philips sind teilweise wirklich legendär, darunter vor allem sein Berlioz-Vermächtnis (er war der erste Dirigent, der das gesamte Orchesterwerk Hector Berlioz‘ komplett einspielte) sowie sein Sibelius-Zyklus (der für viele „Sibelianier“ nach wie vor die einzig wahre Referenz darstellt) und seine vielen Mozart-Aufnahmen, die ihn neben Sir Neville Marriner als den britischen Mozart-Dirigenten schlechthin etablierten.

Interessanterweise sind Davis‘ ganz außerordentlich gute Aufnahmen von Musik der deutschen Romantiker nie so wirklich gewürdigt worden. Dabei gibt es von ihm nicht weniger als sensationelle Schubert-Aufnahmen und ganz hervorragende Brahms-Einspielungen, neben vielen anderen Großtaten, die an dieser Stelle unerwähnt bleiben sollen.

Auf dem Reissue-Label „newton classics“ erscheint nun eines der besten Alben, die Colin Davis im romantischen Fahrwasser Zeit seiner Karriere veröffentlichte in einem optisch zugegebenermaßen ansprechenden neuen Gewand (inhaltlich aber… naja, dazu später mehr).

Es handelt sich um die vollständig und unumwunden hervorragende Aufnahme von Brahms‘ Musik für Chor und Orchester, die Colin Davis 1993 für das Label RCA realisierte.
Mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und dessen fabelhaftem, man möchte sagen, zumindest für dieses Repertoire kaum übertreffbaren Chor, gelang ihm vor fast genau zwanzig Jahren ein Bilderbuch-Brahms, den man bis heute nur loben kann.

Colin Davis trifft im Schicksalslied Op. 54, in der Alt-Rhapsodie Op. 53, der Nänie Op. 82 und im Gesang der Parzen Op. 89 auf beispielhafte Weise jene äußerst schwierig zu erzeugende Balance zwischen dem typischen Brahms’schem Understatement und der gleichfalls typischen majestätischen Grandezza, die Brahms effektvoll, aber eben nur stellenweise in seine Stücke einfließen ließ.
Sir Colin Davis war ein sehr sensibler Dirigent, der diese wunderschöne Musik enorm fein ausgearbeitet hat. Mit diesem Album hat der Dirigent Brahms weithin unterschätzter Chormusik ein bis heute sicher nicht unbedingt gut verkäufliches, dafür aber künstlerisch sehr wertvolles Denkmal gesetzt.

In der Alt-Rhapsodie lauert in Gestalt der Solistin Nathalie Stutzmann der einzige, kleine Wermutstropfen dieser ansonsten absolut empfehlenswerten Einspielung. Stutzmann ist zwar ihrer Aufgabe völlig gewachsen und meistert die heikle Alt-Rhapsodie sehr souverän und mit packender Emotion. Gleichwohl besitzt sie eine etwas „scharfe“ Stimmfärbung, wobei quasi unwillkürlich der Wunsch aufkommt, man könnte hier eine Sängerin mit einer sonoreren, vielleicht auch unangestrengteren Stimme hören.

Ergänzt wird dieses Set bei „newton“ noch durch die rein choralen „Marienlieder“ Op. 22, die – so weit ich das beurteilen kann – auf dem Original-Album bei RCA seinerzeit nicht enthalten waren. Ein willkommener Bonus!

Zwei Dinge seien abschließend gesagt, die im Zusamenhang mit diesem Album rein aus marketingtechnischen Gesichtspunkten als nicht geglückt erscheinen. Erstens: Colin Davis ist seit fast einem Jahr tot. Im Booklettext zu dieser CD ist er hingegen „noch nicht gestorben“ und wird als höchst lebendig und als einer der „world’s foremost conductors“ eingestuft. Das, liebes Label, ist nun wirklich der Gipfel nicht nur der Peinlichkeit, sondern auch der Geschmacklosigkeit, und über diesen Booklet-Text werden viele die Stirn runzeln und sich fragen, welche Menschen hinter der Produktion dieses Albums stecken, wenn sie CDs verlegen, von denen sie nicht wissen, dass ihre Interpreten längst verstorben sind. Das lässt tief blicken in die Produktionsmechanismen der Wiederverwertungslabels und steht im krassen Gegensatz zu der wohl überlegten, sich Zeit nehmenden und bis ins feinste ausgearbeiteten Musikkultur, die wir auf diesem musikalisch herrlichen Album hören können.
Zweitens: Diese Aufnahme erscheint kurioserweise zeitlich fast auf den Tag genau parallel zu der CD-Box „Colin Davis – The Complete RCA Legacy“, in der diese Einspielung ebenfalls enthalten ist. Gleichwohl muss nicht jeder über 50 Colin Davis-CDs in seinen Plattenschrank stellen, sodass diese erneute Einzelveröffentlichung sehr wohl Sinn macht.

Fazit: Die Einspielung könnte besser kaum sein und zählt zu den wenigen wirklich bedeutenden Musikdokumenten der 1990er-Jahre. Zu dem Label kann man nur sagen: Setzen, Sechs! Wer Booklet-Texte so kritiklos hinhunzt (und von den enorm vielen Rechtschreibfehlern bei den Werktiteln im Booklet habe ich an dieser Stelle noch gar nichts gesagt), sollte dafür das erhalten, was er verdient: Kunden, die sich ein wenig mehr Respekt und Dienst am Kunden für ihr Geld erbitten. In diesem Sinne…

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