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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

P. Hindemith - Violinkonzert, Symphonische Metamorphosen, Konzertmusik Op. 50
NDR Sinfonieorchester - Ch. Eschenbach, Midori (Violine)

(2013)
Ondine / Vertrieb: Naxos

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Paul Hindemith - Violinkonzert, Konzertmusik Op. 50, Symphonische Metamorphosen

Eine Reihe von Neuerscheinungen im Sommer 2013 wirft Schlaglichter auf Hindemiths Orchesterwerke

von Rainer Aschemeier  •  17. August 2013
Katalog-Nr.: ODE 1214-2 / EAN: 0761195121429

Paul Hindemith ist einer der bekanntesten Komponisten der klassischen Musikmoderne – er ist aber auch einer der unterschätztesten. Wie passt das zusammen?
Zum einen gibt es immer noch mehr Leute, die etwas über Hindemith gehört haben als von Hindemith. So lange sich das nicht ändert, wird sich die große Bedeutung der Hindemith’schen Werke kaum weiter herumsprechen. Zum anderen hat das aber auch seinen Grund: Noch immer kolportieren jene, die mehr über Hindemith gehört haben als von ihm, dessen Musik sei (ich nenne die Vorurteile mal in der Reihenfolge, in der man sie am häufigsten hört): 1. zu akademisch, 2. regelrecht unmusikalisch und 3. konstruiert.

Hindemith-Kritiker, die gern ein wenig mehr „sophisticated“ sein wollen, merken gern noch an, das Hindemith-Frühwerk sei ja in der Tat umwälzend gewesen, aber das Spätwerk geradezu reaktionär. Solche Wertungen liest man gar in manchen Musiklexika, wobei der eine Autor vom anderen abschreibt und umgekehrt.

Dabei kann man jedem, der sich auf das Abenteuer einlässt, sich mit Hindemiths Musik etwas näher zu beschäftigen, in die Hand versprechen, dass er es ganz sicher nicht bereuen wird. Zwar ist in der Tat die Streuung groß zwischen Genietat und Gelegenheitskomposition – obwohl man auch da keine pauschalen Vorverurteilungen treffen sollte. Vieles von der von Hindemith so propagierten „Gebrauchsmusik“ ist wesentich besser als ihr Ruf.

Grundsätzlich ist es also zu begrüßen, wenn sich Neuerscheinungen auf dem Markt abzeichnen, die sich einmal wieder dem großen deutschen Komponisten Hindemith widmen, der in seiner musikhistorischen Bedeutung endlich dort stehen sollte, wo er hingehört, nämlich gleichberechtigt neben Komponisten wie Strawinsky oder auch Schostakowitsch – kurz: Neben die ganz Großen des 20. Jahrhunderts.

In den letzten Wochen gab es bei the-listener.de deshalb mehrere Rezensionen zu neuen Hindemith-Einspielungen (darunter auch sehr bedeutende, wie etwa hier). Die nächste CD, die ich in diesem Umfeld vorstellen möchte, ist eine Neuerscheinung des finnischen Labels „Ondine“.
Hierbei musiziert das NDR Sinfonieorchester unter der Leitung des zuletzt in Frankreich („Orchestre de Paris“) sowie vor allem in Amerika („Philadelphia Orchestra“, „National Symphony Orchestra“) recht spät zu großem Ruhm und großer Ehre gelangten Christoph Eschenbach. Eschenbach galt hierzulande in den 1980er-Jahren noch als begabter Pianist und aufstrebender Dirigent, dem man eine leichte Hand und viel Schwung nachsagte, dem es aber an den ganz großen Würfen stets mangelte.
Nicht nur diese CD beweist, dass sich daran auch bis heute nicht viel geändert hat. Es wird nur einfach in der Presse mehr überhöht, mehr gejubelt – womöglich auch mangels besserer Alternativen auf dem deutschen „Dirigentenmarkt“.

Das klingt böse, ist aber gar nicht so gemeint. Zugegeben, etwas Stirnrunzeln ist schon dabei. Aber wenn man die Dinge mal nicht so eng sieht, macht Eschenbachs neue Hindemith-CD eine Menge Spaß: Es ist vor allem Eschenbachs „Schwung“, der bei den „Symphonischen Metamorphosen über Themen von Car Maria von Weber“ durchaus begeistert. Deutlich flotter als das Gros der Kollegen begreift Eschenbach diese Stücke als tour de force und nutzt sie, um das NDR Sinfonieorchester in brillanten Farben strahlen zu lassen. Im Verglich zu Referenzeinspielungen dieses Stücks (wie etwa die des San Francisco Symphony Orchestra unter Herbert Blomstedt auf DECCA) wird jedoch schnell offensichtlich, dass Eschenbach die Orchestrierung des Stücks zumindest teilweise überhaupt nicht in den Griff bekommt. In seiner Interpretation klaffen Lücken, so groß, dass man einen Hut durchwerfen könnte.
Deutlich besser ist da die Einspielung des insgesamt viel zu selten gehörten und eingespielten Violinkonzerts.
Hier vermag es Eschenbach selbst an renommierteste Referenzeinspielungen heranzureichen, so etwa an die 1962er-Aufnahme des London Symphony Orchestra unter dem Dirigat des Komponisten mit dem (wohl ewig unerreicht bleibenden) Solisten David Oistrakh.
Was hier nämlich sehr gut funktioniert, ist Eschenbachs sonst bei dieser Musik eigentlich ziemlich problematische Hinwendung zum Klang eines spätromantischen Symphonieorchesters. Eschenbach tendiert bei allen Stücken auf dieser neuen Ondine-CD zur Weichzeichnung, ein wenig auch zur, tja, wie nenne ich das jetzt… ich würde sagen: zur „Serenadisierung“ der Musik.
Das funktioniert nach dem Motto: Mein Publikum hat Angst vor dem schwierigen Hindemith, also spiele ich seine Musik mal ein wenig wie Wiener Klassik. Das kann abscheulich sein – und das ist es auf dieser CD auch des Öfteren. Das kann aber auch gut funktionieren. Und Hindemiths Vioinkonzert bietet sich mit seiner tendenziellen Nähe zur Romantik eh für solche Interpretationen an.

Mit Midori hat Eschenbach für diese Aufnahme zudem eine wahrlich begnadete Solistin an Land ziehen können, die heute noch viel, viel besser zu sein scheint, als zu ihren „Wunderkindtagen“ in den 1980er-Jahren. Was für eine Persönlichkeit! Welch stupende Technik. Wahrlich: Midori ist heute eine ausgereifte und zutiefst individuelle und seelenvolle Interpretin, die zwar einen ganz und gar anderen Stil an den Tag legt, als anno dunnemals der alte Oistrakh, die aber in den letzten Jahren ihre „Mitte“ gefunden zu haben scheint und heute zu den großartigsten Violinisten überhaupt zu zählen ist. Schade, dass die Zeiten ihres großen Ruhms vorbei zu sein scheinen. Was die musikalische Leistung angeht, sollten diese Zeiten jetzt sein, nicht vor zwanzig, dreißig Jahren.

Der die CD abschließenden Konzertmusik für Streichorchester und Blechbläser op. 50 (eines von Hindemiths sperrigeren, noch in hohem Maße dem avantgardistischen Expressionismus seiner frühen Jahre verpflichteten Werken) wird durch Eschenbachs luzides und luftiges Dirigat ihr „Schrecken“ genommen. Wie kratzbürstig und undurchdringlich diese Musik auch klingen kann, hört man in der fantastischen und für mich als Referenzedition geltenden Einspielung des Melbourne Symphony Orchestra unter Leitung des Weinheimer Karajan-Schülers Werner Andreas Albert.
Beeindruckend ist bei diesem Stück aber, welch hohen Grad an Durchzeichnung und Durchhörbarkeit Eschenbach dem NDR Sinfonieorchester hier abzugewinnen versteht – und in welch hohem Qualitätsstandard sich das auch in der vorzüglichen Soundqualität dieser Aufnahme widerspiegelt, die selbst oberste HiFi-Gelüste zu stillen vermag.

Alles in allem ist die neue Hindemith-Platte des NDR Sinfonieorchesters eine zwiespältige Angelegenheit. Sie weiß schon zu begeistern, aber Eschenbach begibt sich mit seiner eigenwillig romantisierenden Aufführungspraxis zuweilen in manche Sackgasse, aus der er dann selbst nicht mehr so recht hinauszufinden scheint. Während die Aufnahme der Konzertmusik op. 50 eine bislang womöglich noch nie erreichte Durchzeichnung offeriert, verraten die klaffenden Orchesterlücken in der Interpretation der „Symphonischen Metamorphosen“ grandioses Scheitern des Dirigenten, dem er durch „Drive“ im Tempo beizukommen sucht. Am besten, weil ausgewogensten, finde ich persönlich die Einspielung des großartigen Hindemith-Violinkonzerts mit der wunderbaren Midori. Dieser Teil der CD hat das Zeug, als Pflichtprogramm für jede Hindemith-Sammlung bezeichnet zu werden. Insgesamt ist diese CD jedoch über weite Strecken eine ziemliche Schaumschlägerei, bei der man sich – abgesehen vom wirklich toll eingespielten Violinkonzert – redlich bemühen muss, die positiven „Rosinen“ aus dem reichlich mit viel heißer Luft gebackenen Kuchen zu picken. Wer ehrlich ist und sich in der Hindemith-Diskographie einigermaßen auskennt, muss das leider so sagen.

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