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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

"Lost Generation"
English Chamber Orchestra - D. Parry; U. Anton (Flöte) & R. Ryan (Klavier)

(2013)
Gramola / Vertrieb: Naxos

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"Lost Generation" - Musik von Schulhoff, Ullmann und Tauský

Eine weitere lohnende Veröfffentlichung in der vorbildlichen Gramola-Serie "exil.arte"

von Rainer Aschemeier  •  20. Januar 2013
Katalog-Nr.: Gramola 98964 / EAN: 9003643989641

Unter dem Namen „exil.arte“ legt die Wiener Plattenfirma Gramola seit einigen Jahren eine sehr verdienstvolle und gut zusammengestellte Edition auf, die Musik von den Komponisten beinhaltet, die von der NS-Herrschaft wegen ihrer jüdischen Abstammung, ihrer angeblich „entarteten“ Kunst oder aus sonstigen Gründen diskriminiert, verfolgt, ins Exil getrieben oder gar getötet worden sind.
Unter dem griffigen, aber vielleicht etwas zu plakativen Titel „Lost Generation“ erschien nun eine der bislang interessantesten CDs aus der genannten Reihe. Sie beinhaltet drei wunderbare Werke Erwin Schulhoffs sowie die musikhistorisch sehr interessante Kammersinfonie Viktor Ullmanns und die „Coventry“ getaufte „Meditation für Streichorchester“ des tschechischstämmigen Komponisten Vilém Tauský.

Wie beinahe zu erwarten war, entpuppen sich hierbei vor allem die Schulhoff-Werke als herrliche, musikalisch äußerst interessante Exemplare des musikalischen Expressionismus im Fahrwasser solcher Größen wie etwa Paul Hindemith oder Ernst Toch. Schon des Öfteren habe ich hier bei the-listener.de geschwärmt, wenn die Sprache auf Schulhoffs Musik kam (so z. B. hier). In der Tat bin ich bei so ziemlich jedem Schulhoff-Werk, das nach jahrzehntelanger Ignorierung dieses vortrefflichen Komponisten neu auf CD erscheint, begeistert wie selten – so auch diesmal: Wie frisch und beschwingt klingt das hier zu hörende Doppelkonzert für Flöte, Klavier und Streichorchester! Und wie raffiniert und doppelbödig ist es komponiert! Das ist ganz große Klasse und keinen Deut schlechter als ähnliche Werke anderer, inzwischen weitaus bekannterer Expressionisten.
Erwin Schulhoff wurde nur 48 Jahre alt. Die NS-Herrschaft fiel just in die produktivste und inspirierteste Lebens- und Arbeitsphase dieses großartigen Komponisten. Er schrieb insgesamt 7 Sinfonien (eine letzte achte begann er noch im Konzentrationslager Wülzburg bei Weißenberg, bevor er dort 1942 an Tuberkulose verstarb), viel Kammermusik für unterschiedliche Besetzungen und auch höchst interessante Klaviermusik.
Auf der CD sind neben Schulhoffs Doppelkonzert noch dessen ebenfalls sehr reizvolle Sonate für Flöte und Klavier zu finden sowie die leicht und tänzerisch komponierten „Drei Stücke für Streichorchester“. Letztere sind offensichtlich Gelegenheitswerke, melodisch und beschwingt, nett anzuhören aber mit den durchaus musikgeschichtlich bedeutenden beiden anderen Schulhoff-Stücken auf der CD nicht zu vergleichen.

Die sogenannte „Kammersinfonie“ Op. 46a des im äußersten Süden Polens an der Grenze zu Tschechien geborenen Komponisten Viktor Ullmann ist das wohl spannendste Stück auf der CD. Es entstand als eines der letzten Werke im Leben Ullmanns, der zum Zeitpunkt der Komposition bereits im Lager Theresienstadt sein Dasein fristete (1944 wurde er nach Auschwitz verschleppt, wo er vermutlich in der Gaskammer ermordet wurde).
Dieses Stück, das zunächst als drittes Streichquartett, Op. 46 das Licht der Welt erblickte, hier aber als „Kammersinfonie“ in einer Bearbeitung für Streichorchester von Kenneth Woods auftaucht, wirkt wie eine kompositorische Antwort auf die nur zwei Jahre zuvor geschriebene zweite Sinfonie Arthur Honeggers, die dieser ja durchaus programmatisch angelegt hatte und in der er sich mit dem Leid des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzte. In der Bearbeitung für Streichorchester sind offensichtliche Paralellen zwischen beiden Werken zu entdecken, die sich bis hin zu Passagen erstrecken, die man beinahe als Honegger-Zitate bezeichnen könnte.
Hat Ullmann Honeggers Sinfonie gekannt? Das ansonsten sehr informative Booklet bleibt jede Antwort zu dieser Frage schuldig. Etwaige Verbindungen zwischen Honeggers Zweiter und Ullmanns drittem Streichquartett werden nicht mit einem einzigen Wort erwähnt. Ich hätte diesen Punkt ganz interessant gefunden, sind doch die Parallelen zwischen beiden Werken mehr als offenkundig.

Abschließend noch ein Wort zu dem schönen Stück „Coventry“ von Vilém Tauský. Dieser tschechischstämmige Komponist ist in dem Trio der hier versammelten Künstler der einzige, der die Zeit der NS-Herrschaft überlebt hat. Er flüchtete bereits 1938 über Frankreich nach Großbritannien, wo er auch für die meiste Zeit seines restlichen Lebens blieb. Er verstarb erst 2004 in London, kurz nachdem er und sein kompositorisches Werk – angestoßen durch das Londoner Jewish Music Institute – in kleinem Maßstab „wiederentdeckt“ worden waren.
Seine achtminütige „Meditation für Streichorchester“ ist ein interessantes Beispiel dafür, wie Tauský aus dem kontinentalen expressionistischen Stil und der rhapsodischen britischen Spätromantik der Fraktion Delius/Holst eine eigene, individuelle Mischung hervorgebracht hat. Diese Musik ist im engeren Sinne sicherlich nicht so „bedeutend“, wie zum Beispiel diejenige Schulhoffs, hat aber einen hohen ästhetischen Reiz und ist ganz einfach auch spannend wegen ihrer individuellen, ziemlich einzigartigen Musiksprache.

Die Interpretationen durch das English Chamber Orchestra unter David Parry mit den Solist/innen Russell Ryan (Klavier) und Ulrike Anton (Flöte) sind durch die Bank hervorragend. Dies gilt in gleichem Maß für den Sound der Aufnahme, der ebenfalls sehr zu gefallen weiß, wenn er auch nicht höchste HiFi-Gipfel zu erklimmen vermag. Fazit: Eine ganz tolle CD mit guter, wirklich schöner Musik in durchweg hochklassigen Interpretationen!

Jeder, der sich für den Expressionismus der 1920er- bis 1940er-Jahre begeistern kann, sollte hier keinen Augenblick zögern und am besten sofort zugreifen! Hier gibt’s keine exotische Nischenware, sondern echte Repertoirebereicherungen, die zum Teil tatsächlich bedeutend sind.

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