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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

"Sounds of Defiance"
Y. Kutik (Geige), T. Bozarth (Klavier)

(2011)
Marquis (Import)

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Schnittke, Achron, Schostakowitsch, Pärt - Yevgeny Kutik, Timothy Bozarth

Nachwuchswunder mit spannendem CD-Debüt

von Rainer Aschemeier  •  7. März 2012
Katalog-Nr.: MAR 81429 / EAN: 774718142924

Unermüdlich stelle ich an dieser Stelle ja immer mal wieder die zum Teil herausragenden CDs des kanadischen Indie-Labels „Marquis“ vor. Leider sind diese Schmuckstücke nach wie vor nur über Importkanäle zu beziehen. Entgegen meiner vor einiger Zeit vorschnell gegebener Ankündigung (s. hier) gibt es für die CDs des engagierten Labels aus Toronto leider auch weiterhin keinen Deutschlandvertrieb.

Wer jedoch die langen Lieferzeiten nicht scheut, kommt in Zeiten des weltumspannenden Onlinehandels im Prinzip ohne Probleme und zu sehr zivilen Preisen an die Marquis-CDs, die uns in letzter Zeit immer wieder sehr positiv aufgefallen waren.

Ein echtes Highlight erblickt nun via Marquis records das Licht der Welt: Es ist die Debüt-CD des aus Weißrussland stammenden, aber in den USA residierenden Geigers Yevgeny Kutik. Wem der Name bekannt vorkommt: Kutik kennt man hierzulande von manchem Konzert und auch von der einen oder anderen Radioübertragung. In Deutschland hat er bislang vor allem mit dem rennommierten WDR-Rundfunkorchester zusammengerbeitet, aber auch mit der Norddeutschen Philharmonie aus Rostock. Des Weiteren scheint der junge Mann ein echter Globetrotter zu sein. Laut den Booklet-Informationen zur hier vorliegenden CD gibt Kutik überall auf der Welt Konzerte. Kein Wunder also, dass nun auch mal eine CD-Einspielung vom Stapel gelassen wird. Und die hat es wirklich in sich!

Das „in sich“ beginnt allein schon mit der Werkauswahl: Unter dem für meinen Geschmack etwas arg plakativen Titel „Sounds of Defiance“ (in etwa: „Klänge der Missachtung“) kommen hier Alfred Schnittkes famose erste Violinsonate, Dmitri Schostakowitschs Violinsonate Op. 134, Arvo Pärts „Spiegel im Spiegel“ sowie zwei kurze Stücke des hierzulande praktisch unbekannten Geigers und Komponisten Joseph Achron auf den Plattenteller, beziehungsweise in die CD-Player-Schublade. Das ist für eine Debüt-CD ein bemerkenswert gewagtes Programm, denn – von Arvo Pärts sehr beliebtem „Spiegel im Spiegel“ einmal abgesehen – handelt es sich bei dem dargebotenen Programm durchwegs um Kompositionen, die entweder als „schwer verdaulich“ gelten und der Zuhörerschaft wirklich volle Konzentration und Hingabe abverlangen oder (im Falle Achrons) einfach nur unbekannt sind.

Und weil dies auf eine nur kleine Zielgruppe für die CD hindeutet, hat Yevgeny Kutik die Einspielung offenbar in Eigenregie über die spannende Homepage www.kickstarter.com finanziert. Das zeugt von echter Hingabe zur dargebotenen Musik, denn der Musiker hatte offenbar ein großes Interesse daran, dass er bei der Konzeption seines CD-Debüts keine Kompromisse machen muss. Das setzte sich auch bei der Aufnahmetechnik fort. Kutik brachte seinen eigenen Tonmeister mit und spielte die CD in einem Tonstudio eines Radiosenders aus Boston ein.

Das Endergebnis ist in jeder Hinsicht großartig geworden. Nicht nur ist Kutik ein einzigartiger Geiger mit einem Sound, der gerade genug von dem hinreissenden „Schmelz“ der russischen Geigenschule hat, aber ansonsten zweifellos ins 21. Jahrhundert gehört. Hier musiziert jemand mit tief empfundener Hingabe zur Musik, was man mit jeder Note hört. Die Musik lebt und atmet, pulsiert und opalisiert. Kurz und Gut: Kutiks emotionale Qualität ist schlicht grandios. Sein Duettpartner Timothy Bozarth ist in dieser Hinsicht etwas nüchterner unterwegs, aber das passt zusammen sehr gut: Immer wenn Kutik Gefahr läuft, etwas zu sehr ins „Tschaikowskihafte“ abzugleiten, holt Bozarth ihn mit seinem betont sachlichen Spiel früh genug wieder zurück auf den Boden der Tatsachen. Allein dieses Wechselspiel zwischen den Solisten der vorliegenden Aufnahme macht diese CD zu einem Hochgenuss.
Es sollte aber auch nicht verschwiegen werden, dass sowohl Kutik als auch Bozarth zwei hochkarätige Interpreten sind, die den zum Teil immensen technischen Herausforderungen dieser Musik jederzeit gewachsen sind.

Der Klang der CD ist ebenfalls hochklassig. Zwar ist er nicht ganz das, was ich als echtes HiFi einstufen würde, doch es fehlt dazu nicht viel. Dynamik und Räumlichkeit sind jedenfalls erstklassig. Es fehlt noch eine Winzigkeit an Auflösung und für meinen Geschmack ist die Geige auch eine Spur zu nah eingefangen worden, während das Piano etwas mehr Bass hätte vertragen können. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Bei dem Spitzensound dieser Aufnahme muss man das Haar in der Suppe wirklich mit der Lupe suchen.

Interpretatorisch ist zu sagen, dass Kutik bei allen Stücken – die ja durchus stilistisch divers sind – eine gute Figur macht, jedoch am besten bei dem Repertoire, das noch in der Romantik „geerdet“ ist, also Schostakowitsch und Achron. Bei Pärt ist Kutik für meinen Geschmack mit zu viel Emotion dabei, soll die Musik Pärts – zumindest vom Konzept des hier eingespielten Stückes her – doch betont sachlich sich „spiegelnde“ Akkordmodulationen reflektieren (daher auch der Titel „Spiegel im Spiegel“).
Bei der famosen Schnittke-Sonate (für meinen privaten Geschmack ein Highlight in der Geschichte der Violinsonate im 20. Jahrhundert) war die im Frühjahr letzten Jahres erschienene Naxos-Gesamtaufnahme einfach so sensationell gut, dass sie sich – trotz Kutiks ebenfalls großartiger Deutung – trotzdem weiterhin als Referenz erweist – allerdings mit erstaunlich knappem Vorsprung. Ich persönlich hätte nicht gedacht, dass in so kurzer Zeit überhaupt irgendwer es fertigbringen würde, den Thron der Naxos-Einspielung überhaupt nur entfernt zum Wanken bringen könnte. Kutik hat das zweifellos geschafft, und ich würde mich nicht wundern, wenn es eine ganze Reihe von Hörern gäbe, die Kutiks etwas emotionalere Lesart der knochentrockenen von Carloyn Huebel und Mark Wait auf Naxos vorziehen.

Kurz und Gut: Dies hier ist eine rundum überzeugende CD, ein fantastisches Debüt eines hochgradig begabten Geigers – und es ist eine Schande, dass sich in Deutschland für solch großartige Aufnahmen offenbar kein Vertrieb finden lässt. Das müsste eigentlich schleunigst geändert werden!

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