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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Legenden und Gebete
duo pianoworte

(2011)
musicaphon / Klassik Center Kassel

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Legenden und Gebete - duo pianoworte

Mission Impossible? Mitnichten ...

von Rainer Aschemeier  •  10. März 2012
Katalog-Nr.: M 56933 / EAN: 4012476569338

Das Melodram ist sowohl heute als auch früher ein Kuriosum der Musikgeschichte. Die meisten Menschen nutzen den Begriff „Melodram“ beziehungsweise „melodramatisch“ höchstens mal im sprichwörtlichen Zusammenhang, haben aber keine Ahnung, dass das Melodram als real existierende Werkgattung im musikalischen Kontext überhaupt existiert. Was also ist ein Melodram?

Ein Melodram ist ein Musikstück – egal, ob für großes Orchester, eine Kammermusikbesetzung oder ein Soloinstrument -, dessen Text (der in der Regel eine abgeschlossene Geschichte erzählt) gesprochen statt gesungen wird. Es gibt Melodrame mit rhythmisch auskomponierter Sprechpartie, bei der jeder Silbe ein fester „Platz“ im Stück zugewiesen wird. Es gibt auch andere Melodrame, bei der der Sprechtext sich eher mit der Musikpartie abwechselt, was zu einem freieren Vortrag führt und den Vorteil hat, dass auch musikalisch nicht vorgebildete Sprecher das Stück zusammen mit einem Musiker aufführen können.
Prominente Komponisten schufen Melodrame, selbst Ludwig van Beethoven oder auch Franz Schreker. Einige Spätwerke Arnold Schönbergs sind für Sprechgesang gesetzt und könnten somit durchaus auch als Melodrame gewertet werden.

Das Duo mit dem pfiffigen Namen „pianoworte“ ist Deutschlands einziges ausschließlich auf den Vortrag von Melodramen spezialisiertes Ensemble. Es besteht aus dem Pianisten Bernd-Christian Schulze und dem Schauspieler Helmut Thiele, der auch ein Gesangsstudium absolviert hat.
Die beiden haben sich nicht nur die – annähernd unmöglich erscheinende – Aufgabe gestellt, Melodrame einem breiten Publikum schmackhaft zu machen, sondern zusätzlich wollen sie auch christliche Glaubensinhalte auf heitere und unterhaltsame Weise vermitteln.
Mission impossible?

Mitnichten. Die neue CD des Duos mit dem betont schlichten Titel „Legenden und Gebete“ zeigt, dass die Mission durchaus erfolgreich sein kann. Niveauvolle Texte von Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf, dem österreichischen Schriftsteller Alois Brandstetter und dem ebenfalls österreichischen Mundartdichter Wilhelm Rudnigger geben sich ein Stelldichein mit einem Text von Erich Jooß – seines Zeichens publizistischer Berater der Deutschen Bischofskonferenz (und so, wie die Jobbezeichnung klingt, fällt dann auch dieser Text aus …).
Die Musik stammt von durch die Bank eher gemäßigt modern komponierenden Größen der deutschen Musikszene, von denen der 1983 verstorbene Frieder Meschwitz noch der prominenteste Name sein dürfte. Des Weiteren tauchen die Namen Christoph J. Keller und Heinrich Gattermeyer auf: Der Erste ist ein Komponist aus dem dezidiert christlichen Umfeld, der Zweite war Kompositionsprofessor an der Universität Wien.
Klingt dies alles schon etwas bieder, wird man dann vollends skeptisch, wenn man das Label der als Schlagersender verrufenen Rundfunkstation NDR1 Radio Niedersachsen liest.

Das all dies trotz allem eine äußerst unterhaltsame und zudem durchaus niveauvolle Mischung geworden ist, ist für mich das eigentliche Wunder. Man kann sich diese Melodrame überwiegend wirklich gut anhören, und zumindest diejenigen, für die Frieder Meschwitz kompositorisch verantwortlich zeichnete, haben auch musikalisch durchaus Klasse. Man höre sich etwa die Kreuzigungsszene in Meschwitz‘ Legendenvertonung des Lagerlöf-Sujets „Das Rotkehlchen“ an – das ist nicht nur effektvoll und clever komponiert, sondern das geht tiefer. Das ist wirklich gut.
Auch das Melodram „Christophorus“ besticht vor allem durch seine inspirierte Musik, während der Text (wie bereits erwähnt) etwas brav daherkommt und zudem seine Längen hat. Die folgenden „Blumengebete“ von Heinrich Gattermeyer und Wilhelm Rudnigger bestechen durch originelle Texte, doch stört mich (aber das mag ja jeder sehen, wie er will) die „wienerische“ Note der Musik, die in ihren doch sehr plakativen Kontrasten zwischen eingestreuten Dissonanzen und immer wieder aufblitzenden hoch melodiösen Teilen auf mich etwas modellhaft wirkt.

Das Duo pianoworte führt alles perfekt auf, legt sich sehr ins Zeug. Bernd-Christian Schulze ist ein wirklich toller Pianist ohne Fehl und Tadel. Sprecher Helmut Thiele ist hingegen womöglich nicht jedermanns Sache, da seine Stimme sich nicht nur durch eine sehr charakteristische, sehr „mittenpräsente“ Stimmfärbung auszeichnet, sondern sein Vortrag (womöglich produktionsbedingt?) auch durch eine gelegentlich übertrieben wirkende Sprachakkuratesse in Szene gesetzt wird, die Teile der Hörerschaft sicherlich polarisieren wird.

Fazit: Eine interessante CD für Leute, die sich schon immer mal näher mit der selten auf Tonträger nachzuhörenden Gattung des Melodrams beschäftigen wollen – und dabei nichts gegen Vermittlung von christlichen Glaubensinhalten einzuwenden haben. Ich glaube, die CD ist nichts für jedermann, aber unter rein musikkritischen Aspekten ist das eine mehr als ordentliche Produktion mit guter Musik und oft unterhaltsamen und wirklich tiefsinnigen Texten. Der Klang ist durch die Tonmeister des NDR erstklassig aufgezeichnet worden.

((Das Hörexemplar der CD wurde uns freundlicherweise vom Vertrieb des Labels, der Firma Klassik Center Kassel, zur Verfügung gestellt.))

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