C. Koechlin - Les heures persanes
Ralph van Raat
(2012)
Naxos
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rauschhafter Entdeckungstrip durchs Zweistromland
von Rainer Aschemeier • 23. Januar 2012
Katalog-Nr.: 8.572473 / EAN: 747313247370
Der Niederländer Ralph van Raat gehört ohne Zweifel zu den herausragenden jungen Interpreten, die in den letzten Jahren auf dem Naxos-Label aufgetaucht sind. Fast alles, was van Raat bislang eingespielt hat, meistens Werke der zugänglicheren Moderne (Adams, Tavener, Strawinsky, nicht zuletzt eine auch von www.the-listener.de besprochene, sehr schöne Platte mit Klavierwerken Arvo Pärts) konnte man quasi blind kaufen. Doch jetzt wagt sich van Raat auf ein Gebiet vor, bei dem er sich einem der denkbar großartigsten Konkurrenten überhaupt aussetzt – nämlich Michael Korstick!
Der deutsche Pianist Michael Korstick, der binnen des vergangenen Jahrzehnts wie kein Zweiter für Furore gesorgt hatte, legte Ende der „Nuller“-Jahre eine grandiose Gesamtaufnahme der Klavierwerke des französischen Komponisten Charles Koechlin vor, darunter 2009 auch dessen pianistischen Hauptzyklus „Les heures persanes“. Diese Gesamtaufnahme erschien auf hänssler classics, bekam – dafür, dass es sich bei Koechlin hierzulande nach wie vor um einen eher unbekannten Meister handelt – auffallend viel Medienecho und gilt als die derzeitige Referenz, wenn es um die Klaviermusik des etwas schrägen Franzosen geht. Für Ralph van Raat ist die jüngst via Naxos erschienene Einspielung also eine echte Bewährungsprobe.
Doch selbst im direkten, unbarmherzigen Vergleich mit Korsticks derzeitiger Referenzedition schlägt sich van Raats Interpretation der sphärisch-verschrobenen Ergüsse des französischen Eigenbrödlers Koechlin verdammt gut. Das liegt vor allem daran, dass der Niederländer diese Musik im Vergleich zu seinem renommierten deutschen Kollegen ganz eigenständig und anders, nämlich viel emotionaler und geheimnisumwitterter angeht. Während Michael Korstick die Koechlin’sche Vertonung eines Reisetagebuchs (daher auch der Titel „Die persischen Stunden“) als reale Wüstentour begreift, mit Mühen, harten Kamelrücken und einigen Beschwernissen, geht van Raats Deutung eher ins Transzendentale und wirkt damit wie ein knapp einstündiger Opiumtrip.
Nun stellt sich die – wohl nur geschmäcklerisch zu beantwortende – Frage, wer Recht hat. Korsticks Ansatz, das Stück genauest möglich und quasi akademisch wiederzugeben ist stets legitim und ist womöglich der „bessere“ Ansatz, weil er nichts hinzu dichtet, was nicht in den Noten steht. Ralph van Raats betont emotionale Deutung – die, das soll auch erwähnt werden, übrigens auch spieltechnisch tadellos vorgetragen ist – wird sicher so manchen vor den Kopf stoßen, öffnet anderen aber vielleicht auch erst die Tür zu dem bis heute völlig eigenständigen und gelegentlich sperrig zu nennenden Stil Charles Koechlins.
Mir persönlich gefällt der rauschhafte Ansatz Ralph van Raats, der „Les heures persanes“ wirken lässt, wie eine musikalische Ausgabe von „Der englische Patient“, also zwar „real“, aber irgendwie doch auch etwas „unwirklich“, sehr gut, ehrlich gesagt fast besser, als der Korsticks. Ich finde, dass Ralph van Raat ganz ausgezeichnet den „Ton“ dieser Musik und die geheimnisvolle Aura dieses Werks, das für meine Begriffe ein Solitär in der Geschichte der Klaviermusik ist, eingefangen hat. Insofern: Hut ab!
Vor allem auch vor der spieltechnischen Leistung des Niederländers, die – das sollte man noch einmal betonen – wirklich makellos ist und es jederzeit mit den ebenfalls fabelhaften Korstick-Deutungen aufnehmen kann.
Ein leichtes Manko dieser CD ist allerdings die Tontechnik. Um es gleich klarzustellen: Diese CD klingt gut, sogar ziemlich gut. Dennoch kommt sie erstens nicht an die klangtechnisch einfach hervorragend aufgezeichnete Korstick-Einspielung auf hänssler classics heran und besitzt zweitens auch einen eher ungewöhnlichen Aufnahmefehler. Dieser wird bereits im ersten Stück des Zyklus deutlich und zieht sich von dort durch die gesamte CD bis zum Ende des Programms. Offenbar wurde nämlich das Mikrofon (oder eines der Mikrofone) zu nah am Dämpfer positioniert. So hört man (vorausgesetzt die heimische Anlage gibt diese Auflösung her) jedes Mal, wenn der Pianist das Dämpfungspedal betätigt, das Auftreffen des Filzlappens am Ende der Dämpfungsmechanik des Konzertflügels auf die Klaviersaiten, was einen einem Gong ähnlichen Effekt ergibt und schon ein ziemlich kurioser Klangeindruck ist. Zudem hört man leider auch etwas Trittschall. Auch das wäre vermeidbar gewesen und ist ebenfalls ganz eindeutig ein Fehler der Tontechniker. Das gibt zwar Abzüge in der „Klangnote“, doch das dürfte wirklich nur die HiFi-Fans interessieren, denn die meisten handelsüblichen Stereoanlagen sind gar nicht in der Lage, solche Aufnahmefehler überhaupt zu entlarven.
Wer das verschmerzen kann, wird eine annähernd volle Stunde subtilsten Musikgenusses erleben, eine träumerisch eingespielte CD, deren unwirkliche Musik das Zeug hat, einen weit aus dem Alltag heraus zu entführen in die Welt der steinigen Wüsten und Gebirgsmassive, der Oasen und Karawanen des Zweistromlands, kurz, in Charles Koechlins dandyhafte Auslegung der „persischen Stunden“.
((Das Hörexemplar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise von der Firma Naxos zur Verfügung gestellt.))