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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

A. Campra - Le Carnaval de Venise
Chœr et Orchestre du Concert Spirituel, div. Sol. - H. Niquet

(2011)
Glossa / note 1

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André Campra — Le Carnaval de Venise

Spektakuläre Wiederentdeckung eines musikhistorischen Kuriosums

von Rainer Aschemeier  •  7. September 2011
Best.-Nr.: GCD 921622 / EAN: 8424562016224

Einst war Musik auch eine geographische Angelegenheit: Händel machte sich in Rom unbeliebt, weil er laut Meinung einiger hochgestellter Herren „viel zu französisch“ komponiert hätte. Im Gegensatz dazu verachtete der französische Barock die durch Rezitative „entstellte“ italienische Oper, die für französische Ohren wohl so etwas wie der Gipfel der musikalischen Unzugänglichkeit gewesen sein soll. Eine Annäherung fand somit nicht statt. Eher versuchten französische und italienische Komponisten lange Zeit, sich ganz bewusst voneinander abzugrenzen.

In diesen Tagen erscheint eine neue CD beim spanischen Edel-Label „Glossa“, die beweist, dass es zumindest an Versuchen, beide Stile einander anzunähern nicht fehlte. Hierbei sollte allerdings gesagt sein, dass André Campras als „Opéra-ballet“ titulierter Vorstoß eine einmalige, selbst aus heutiger Sicht noch gewagt anmutende Kuriosität gewesen ist. Campra, zu seiner Zeit einer der beliebtesten Komponisten von Opern und geistlicher Musik im barocken Paris, nahm den „Karneval von Venedig“ zum Anlass, um ein groß angelegtes Bühnenwerk zu kreieren. Die Franzosen hatten zu der Zeit bereits viel vom venezianischen Karneval gehört, wobei die Stories, die man sich darüber hinter vorgehaltener Hand ins Ohr tuschelte, wohl vor allem die frivole und lustvolle Seite dieser Traditionsveranstaltung hervorgehoben haben dürften.

Es wird die Maskenfreiheit und frivole Ausgelassenheit des venezianischen Karnevals gewesen sein, die Campra und sein Publikum faszinierten. In "Le Carnaval de Venise" bediente der Komponist diese Sehnsucht des Publikums nach schwungvollem Pomp und größtmöglichem Theatereffekt aufs vortrefflichste. Bildquelle: wikimedia commons.

Aus heutiger Sicht könnte man das vielleicht am ehesten damit vergleichen, als würde ein Komponist unserer Tage versuchen, ein Bühnenwerk über die goldene Zeit der „Loveparade“ zu schreiben, wobei im Programmheft stünde: „Garantiert mit Dancemusic-Elementen und viel nackter Haut!“

Ein richtiges Skandalwerk war es also, was André Campra sich hier vorgenommen hatte. Man kann sich gut vorstellen, wie sich sein „Opernballett“, das etwa 50/50 aus Gesangsnummern und aus rein instrumental dargebotener Ballettmusik besteht, dazu eignete, alle Facetten der Kostüm- und Bühnenbilderkunst in einer womöglich noch nie dagewesenen Fülle zu präsentieren. Zudem bot es mit der Verquickung des für das Publikum gewohnten französischen Stils und einer hoch interessant anzuhörenden Imitation des italienischen Opernhabitus auch dem Komponisten einen fabelhaften „Präsentierteller“.
Doch das Unterfangen war auch gewagt: Schließlich hatte das Publikum durchaus seine Ressentiments gegenüber der italienischen Oper; gleichzeitig aber war es von ihr und dem damit einhergehenden „Dolce Vita“-Gefühl fasziniert. Es war also eine Gratwanderung, die Campra hier unternahm. Doch sie sollte sich für ihn auszahlen: „Le Carnaval de Venise“ wurde ein großer Erfolg und sollte seinem Schöpfer noch viele Jahre voller Ruhm bescheren.

Trotzdem muss das Stück an irgendeinem Punkt der Musikgeschichte in Vergessenheit geraten sein. Vielleicht nahm man es nur eine Generation nach seinem Entstehen auch schon als das war, als das wir es heute auf den ersten Blick empfinden: Als Kuriosum, als etwas, das nicht in die gängigen Normen passt, als etwas, das sich als Sackgasse der musikalischen Entwicklung herausstellte.
Die nun frisch erschienene Neueinspielung des Stücks durch das Orchester Le Concert Spirituel unter seinem Leiter Hervé Niquet bläst jedenfalls tüchtig den Staub von diesem viel zu lange in der Versenkung verschwundenen Meisterwerk, denn genau das — und nichts weniger als das — ist „Le Carnaval de Venise“: Ein wirkliches und äußerst inspiriertes Meisterwerk! André Campra hat sich hier wirklich selbst übertroffen: Herrliche Arien mit wundervollen Melodiebögen wechseln sich ab mit spritzigen Instrumentalstücken, verspielten Intermezzi und tänzerischen Balletteinlagen. Noch heute könnte man den Pomp, das Gedröhne, die Laszivität und das Verträumte des Karnevals von Venedig nicht treffender in Töne fassen. Das ist wirklich und wahrhaftig ein großes Werk, das es verdient hätte, zum Standardrepertoire der Theater und Opernhäuser der Welt zu gehören.

Die Einspielung von Le Concert Spirituel ist dazu absolut superb: Mit viel Verve und Elan musizieren die Franzosen und lassen „Le Carnaval de Venise“ prachtvoll wiederauferstehen. Dabei sind jedoch die Dynamik-Finessen, die Campra in sein Werk eingebaut hat, dem „Drive“ des Orchesters nicht zum Opfer gefallen: Ganz im Gegenteil; Le Concert Spirituel erweisen sich als sensible Sachwalter dieser großartigen Musik und verleihen dieser Aufnahme, nicht zuletzt auch durch die durchwegs vorzüglichen Gesangssolisten, deren Besetzung man sich nicht besser hätte wünschen können, Referenzcharakter. Es wird lange dauern, bis diese Wahnsinns-Leistung getoppt werden kann.

Klanglich ist die Aufnahme oberstes „Glossa“-Niveau und somit eine uneingeschränkte Empfehlung für Hifi-Fans: Glasklare akustische Auflösung, die eine bis zum letzten Geigenbogen durchhörbare räumliche Klangkulisse entstehen lässt, paart sich mit dem warmen, kraftvollen Sound des französischen Orchesters, das auf historischen Instrumenten musiziert. Ganz im Gegensatz zu viel zu vielen „Alte Musik“-Einspielungen hat diese hier zudem richtig „Wumms“ im Bass, was die Aufnahme noch kerniger und solider wirken lässt. Fazit: Auch an der Klangfront macht sich Begeisterung breit.

Eine wirklich fantastische Wiederentdeckung, die hoffen lässt, dass man noch weitere, ähnlich spannende Werke von André Campra wieder zu neuem Leben erwecken wird!

((Das Hörexempar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise vom Vertrieb des Labels, der Firma „note 1“ zur Verfügung gestellt.))

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