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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

A. Copland - Quiet City (Welt-Ersteinspielung in Original-Instrumentation)
Christopher Brellochs und div. Sol.

(2011)
Sono Luminus

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Aaron Copland - Quiet City (Weltersteinspielung in Originalinstrumentation)

Copland reconstructed

von Rainer Aschemeier  •  11. August 2011
Best.-Nr.: DSL-92135 / EAN: 053479213525

Es ist ein Naturreflex bei Plattensammlern, und das Wort „Weltersteinspielung“ löst ihn aus: Kurzes Zusammenzucken, gedankliches Überschlagen der Repertoire-Reichweite dieses Vorfalls, sodann (bei positiver Prüfung) gedankliches Überschlagen des zur Verfügung stehenden Raums im CD-Ständer und des zur Verfügung stehenden CD-Budgets für den laufenden Monat — Das ganze passiert innerhalb von etwa 30 Sekunden. Plattenfirmen wissen das genau.

Eben aus diesem Grund ist immer höchste Vorsicht geboten, wenn uns ein Plattenlabel vorschwärmt, es habe plötzlich eine „Weltersteinspielung“ an der Angel — und dies zumal, wenn es sich um ein Werk handelt, dass in einer anderen Fassung bereits zu den etablieren Klassikern gehört und schon nahezu hundertfach eingespielt wurde. So manch locker sitzender Sammler-Reflex hat dann am Ende des Monats vor allem Geld gekostet und in Sachen Repertoirewert doch letztendlich nur wenig gebracht.

Einen besonders spektakulären Fall von „Welterst…“ — ihr wisst schon… — haben wir im Juli vom amerikanischen Sono Luminus-Label vernehmen können, dass bis vor einiger Zeit noch unter dem Namen „Dorian records“ firmierte. Dort behauptet ein Saxophonist namens Christopher Brellochs die bislang verschollene Originalinstrumentation des weltbekannten Stücks „Quiet City“ von Aaron Copland ausgegraben zu haben, und Sono Luminus brüstet sich nun mit der „Weltersteinspielung“. Was ist dran?

Vielleicht beginnen wir erst einmal mit ein paar Sätzen zum Stück selbst. „Quiet City“ wird (unverständlicherweise) in vielen Konzertführern als „Ballett“ ausgewiesen, war aber nie als solches geplant und ist es auch einfach nicht. Es begann seine bewegte Entstehungsgeschichte als Schauspielmusik, die Aaron Copland für ein Theaterstück am Broadway geschrieben hatte. Damals erklang es wohl in einer Quartett-Besetzung für Trompete, Klarinette, Saxophon und Klavier — jedoch nur ein paar Mal bei den Theaterproben, denn noch bevor das Stück uraufgeführt wurde, entschied man sich, es gar nicht erst zu versuchen. „Quiet City“ wurde in dieser Urversion also nie aufgeführt, die Partitur wurde nie gedruckt — und von Copland auch nie fertiggestellt. Der Komponist besann sich einige Jahre später jedoch seines Stücks und setzte es für Kammerorchester. Diese Fassung wurde zu einem der bekanntesten Orchesterwerke des US-Amerikaners und ist heute quasi hundertfach auf CD verfügbar (falls sich jemand dafür interessiert: Ich empfehle die famose Einspielung des Orchestra of St. Luke unter Dennis Russell Davies, die einst bei Music Masters erschien und heute bei Nimbus Records erhältlich ist).

Aaron Copland in seinem Haus am heimischen Klavier. Gern möchte man sich vorstellen, dass er in solch intimer Atmosphäre auch sein wunderschönes Stück "Quiet City" schuf. Bildquelle: wikimedia commons


An dieser Geschichte dürfte auch gleich der „Haken an der Sache“ aufgefallen sein: Copland hatte an seine Originalpartitur für die ungewöhnliche Urbesetzung aus Trompete, Klarinette, Saxophon und Klavier nie wirklich letzte Hand angelegt. Die Skizzen (mehr gibt es nicht) im Autograph des Komponisten gelangten jedoch über Umwege an Paul Cohen, einen Saxophonisten und Musikhistoriker, der (bei einem anderen Stück) auf der hier vorliegenden CD auch als Musiker in Erscheinung tritt. Christopher Brellochs, der Solist dieser neuen Einspielung, hat sich die Skizzen nun vorgenommen und daraus ein gut dreizehnminütiges Stück rekonstruiert, dass sich nicht nur durch die zum Quartett reduzierte Besetzung von dem später als Kammerorchesterstück bekannt gewordenen „Quiet City“ unterscheidet, sondern auch von dem musikalischen Material, das hier zum Einsatz kam. Copland hatte bei seiner Erstfassung noch Material einbinden wollen, das er später für seine Filmmusik zu „Our Town“ verwendete und das er deswegen in der endgültigen „Quiet City“-Fassung mit neu komponierter Musik ersetzte. Vielleicht führt das alles hier aber auch etwas in die Irre…
Jedenfalls ist das, was ich eigentlich sagen möchte, Folgendes: Die „Quiet City“-Fassung, die hier erklingt, wurde so nicht vom Komponisten autorisiert, der ja auch bekanntlich leider im Jahr 1990 verstarb. Doch „The Aaron Copland Estate“, die offizielle Einrichtung zur Verwaltung des kompositorischen Erbes Aaron Coplands, hat dem Vorhaben Brellochs‘ ihren Segen gegeben und ebenso Coplands Verleger Boosey & Hawkes — klar, die wissen ja auch: Hier könnte die Kasse wieder klingeln… Wir erinnern uns: „Quiet City“ ist eine Ikone der amerikanischen Moderne und lockt in der neuen Fassung sicherlich einige Kammerensembles an, die Noten brauchen, daher Geld für das copyright berappen und somit frisches Geld in die Kassen von Erben und Verleger fließen lassen.

Doch, um das hier mal klarzustellen: Christopher Brellochs ist auch tatsächlich eine wirklich hinreißende, sehr überzeugende Fassung gelungen, die wirklich jeden Copland-Fan sehr zufriedenstellen dürfte. Auch ich empfinde diese neue Werkversion als außerordentlich gelungene und wertvolle Repertoirebereicherung, für die es sich auch lohnt, das Geld zu berappen, um diese CD zu kaufen (zumal die CDs von Sono Luminus am deutschen Markt ja zu recht günstigen Preisen zu haben sind).
Es lohnt sich zumal, da das selbsterklärte Hifi-Label Sono Luminus (das in Sachen Hifi aber häufig leider nicht ganz so konsequent zur Sache geht, wie sie gerne behaupten), hier einmal eine Spitzenaufnahme hingelegt hat, wie sie besser kaum sein könnte. Coplands „Quiet City“ perlt in einem mondänen, luziden, weichen aber doch in höchstem Maße brillanten Schönklang aus den Boxen, dass es eine Pracht ist. Die Instrumente sind hervorragend ortbar, und — und dass ist meines Erachtens die Königsklasse der Tonmeisterkunst — diese CD breitet eine klangliche „Bühne“ aus, vermittelt also eine räumlich „spürbare“ Atmosphäre. Sie hat klanglich gesehen eine starke eigene Individualität. Und das ist wirklich allererste Sahne. Hut ab!

Es gibt übrigens auf dieser Einspielung noch Stücke von anderen US-Komponisten des 20. Jahrhunderts zu hören, die jedoch im Vergleich zu dem Copland-Meisterwerk qualitativ teils auf erheblich (!) niedrigerem Niveau rangieren. Gut sind „Sound Moves Blues“ von Robert Aldridge, der hier eine zwar anachronistisch anmutende, ansonsten aber routiniert und gut komponierte Gershwin meets Modern Jazz meets Neue Musik-Tour de Force geschrieben hat sowie die „Lyric Suite“ von Walter S. Hartley, die in meinen Ohren das zweitbeste Stück auf dieser CD ist und über weite Strecken wirklich zu überzeugen, manchmal gar zu fesseln weiß. Das ist nicht nur stil- und anspruchsvolle Musik, sondern auch ein Stück, dass man noch nach vielen Durchläufen nicht „satt“ hat.

Weniger überzeugen können mich hingegen „Ballade“ von Leo Ortstein, der ein fabelhafter Komponist gewesen sein mag, wie uns das Booklet überzeugen will, aber bei diesem Stück wohl nicht eben seinen besten Moment hatte sowie die Sonate für Sopransaxophon und Piano, op. 37 („Alpine“) von Lawson Lunde, die in meinen Ohren ein — ich bin jetzt mal hart — Gelegenheitsstück von der Sorte ist, die Nachwuchssaxophonisten gern bei „Jugend musiziert“ vorspielen (soll heißen: brav, flach, tut keinem weh — interessiert aber auch niemanden). Auch die Suite für Trompete, Altsaxophon und Klavier von Seymour Barab ist kompositorisch nicht gerade das Gelbe vom Ei (ist aber erkennbar besser, als die beiden vorgenannten Stücke).

Fazit: Diese CD kauft man sich wegen der Neufassung von „Quiet City“ oder man kauft sie sich gar nicht. Ich jedenfalls rate zum Kauf, denn die neue Version ist wirklich sehr sehr schön und eröffnet auch eine neue Sichtweise auf einen der beliebtesten Copland-Klassiker. Der Sound dieser CD ist 1A mit Sternchen. Leider besteht der Rest des eingespielten Repertoires zu mehr als 50% aus qualitativ deutlich schwächeren Kompositionen, sodass es aus diesem Grund (und wirklich nur aus diesem Grund) einen Punkt Abzug geben muss. Ansonsten: Top!

((Das Hörexemplar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise vom Vertrieb des Labels, der Firma Naxos, zur Verfügung gestellt.))

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