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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

R. Vaughan Williams - Sinfonien Nr. 5 & 6
Academy of St.-Martin-in-the-Fields - N. Marriner

(2011/1990)
Retrospective Records

• • • •

Ralph Vaughan Williams - Sinfonien Nr. 5 + 6

Das CD gewordene Glück des Jägers und Sammlers

von Rainer Aschemeier  •  14. Juni 2011
Best.-Nr.: RETR0006 / EAN: 5065001863165

Zwar mag sich die Welt seit der Steinzeit ungeheuerlich entwickelt haben, doch der „Sammler und Jäger“ in uns existiert weiter im Genom und führt dazu, dass sich erwachsene Menschen (meistens Männer) auf CD- und Schallplattenbörsen mit gesenkten Häuptern in Kisten vertiefen und nach dem „Erlegen“ einer lang gejagten Beute nicht selten in spontane Freudentänze ausbrechen. Seit der Erfindung des ziemlich sinnlosen Claims „digitally remastered“ (schließlich musste auch in den Achtzigerjahren schon jede CD digital gemastert werden, damit sie einmal eine CD werden konnte) sieht man diese illustren Gestalten irgendwie seltener auf Börsen, denn wir schwelgen heutzutage in einem nie dagewesenem Überfluss. Es muss festgestellt werden: Beinahe alles, was das Herz des CD-Sammlers im Bereich der klassischen Musik begehrt, ist derzeit auch auch lieferbar.

Im Bereich der klassischen Musik haben Labels wie Deutsche Grammophon, EMI, DECCA, Philips und Co. auch schon vor längerer Zeit ausschweifende Remaster-Serien auf den Markt geworfen, sodass man sich echt fragt, was denn der Jäger im Sammler überhaupt noch jagen soll!? Wie dem auch sei, es gab (und gibt) noch immer eine kleine, feine Nische, in der sich das Jagen noch lohnt: Beim Jagdrevier handelt es sich um die vielen kleinen und kleinsten pleite gegangenen Klassiklabels der 1980er- und 1990er-Jahre, die ihre CDs oft nur in geringen Auflagen pressten und schneller wieder vom Markt verschwunden waren, als man gucken konnte. Mir fallen da zum Beispiel Namen wie Conifer Classics, Music Masters oder eben auch Collins Classics ein.

Letztgenanntes Label war eine britische Firma, die 1989 erstmals mit ihren CD-Produktionen auf dem Markt auftauchte und 1998 ihre Pforten schon wieder schließen musste — also sogar noch vor der großen „Download-Krise“, die nach der Jahrhundertwende die Independent-Labels massenweise einknicken ließ. Collins Classics konzentrierte sich zwar nicht nur, aber doch zu einem Gutteil, auf britisches Repertoire und schickte zumeist auch englische Künstler und Orchester ins Rennen. Unter den Labels seiner Zeit blieb Collins Classics relativ gesichtslos, hatte aber doch zumindest eine Handvoll spannender Aufnahmen in seinem Katalog. Dazu gehörten insgesamt drei CDs mit Musik von Ralph Vaughan Williams von der Academy of St. Martin-in-the-Fields unter der Leitung ihres Gründers Sir Neville Marriner. Wer die fabelhaften DECCA-Aufnahmen (bzw. erschienen die Einspielungen damals unter den Imprints „argo“ und „London“) der Academy mit Vaughan Williams-Werken kennt, dürfte seinerzeit keine Zeit und kein Geld gescheut haben, um sich die Marriner-Einspielung der 5. und 6. Sinfonie des britischen Sinfonikers auf Collins Classics zu sichern.

2011 erschien diese Aufnahme nun überraschend im Rahmen einer Rerelease-Reihe von ehemaligen Collins Classics-Veröffentlichungen, die von einem ominösen Label namens „Retrospective Records“ bzw. „Retrospective Revival“ auf den Markt geworfen werden. Zwar verrät das die Plattenfirma auf ihrer website mit keinem Sterbenswörtchen, jedoch ist es ganz interessant zu sehen, dass die postalische Adresse des Labels deckungsgleich mit der Adresse des britischen Klassik-Independents „Nimbus records“ ist. Wir ziehen unsere Schlüsse daraus…

Wie dem auch sei: Es ist schön, dass diese rare und sehr gesuchte CD nun wieder regulär verfügbar ist. Es steht zu befürchten, dass das nicht lange so bleiben wird, also steht für den Jäger und Sammler die Frage im Raum: Soll ich zugreifen?
Die klare Antwort lautet: Jawoll! Zugreifen, so lange es noch möglich ist. Zum Midprice erwirbt man hier die schlicht besten erhältichen Interpretationen der 5. und 6. Sinfonie von Ralph Vaughan Williams, die es gibt; und Ihr könnt mir glauben: Ich habe verdammt viele Aufnahmen dieser Sinfonien gehört — und die meisten waren schlecht! Richtig schlecht! Leonard Slatkin an vorderster Stelle, aber auch Andrew Davis, Richard Hickox, Bernard Haitink, Kees Bakels und Yehudi Menuhin: Alle haben es mal versucht, und sind erstaunlich oft dabei gescheitert, den auf den ersten Blick doch relativ konventionellen Sound der Sinfonien des urbritischen Komponisten Ralph Vaughan Williams auf Tonträger zu bannen. Lediglich André Previn und Vernon Handley sind nach meinem Dafürhalten wirklich überzeugende Interpretationen gelungen (Previn auf RCA und später auf Telarc, Handley auf EMI). Doch diese Marriner-Aufnahme toppt sie beide.
Ist etwa doch mehr „dran“ an der Musik von Vaughan Williams, den viele gern kurz und knapp als „Spätromantiker“ abtun? Ich denke: Ja! Vaughan Williams‘ Sinfonien existieren in einer ähnlichen musikalischen Grauzone zwischen Spätromantik und Moderne, wie zum Beispiel die Sinfonien des Finnen Jean Sibelius oder des Dänen Carl Nielsen. Interessanterweise gibt es von den Sinfonien aller drei Komponisten zahllose Gesamtaufnahmen, von denen man die allermeisten aber getrost vergessen kann. Offenbar ist es nicht ganz so leicht, dieses „Zwischending“, das sich da in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei einigen nationalstilistisch gefärbten Komponisten herausbildete, auch adäquat zu erfassen und zu interpretieren. Marriner hat es auf dieser fabelhaften Einspielung geschafft wie kein Zweiter. Hätten wir doch nur eine Gesamteinspielung von ihm! Doch es ist nicht anzunehmen, dass sich der mittlerweile über 85-jährige Sir Neville noch einmal dazu aufraffen wird. Nehmen wir’s also wie’s kommt!

Doch leider kommt es technisch mangelhaft: Die CD-Neuveröffentlichung von Retrospective Records enthält einen hässlichen Pressfehler bei Minute 6:24 von Track 8 (= Epilog der sechsten Sinfonie), in der Form, dass die Musik für zwei Sekunden komplett aussetzt. Das ist sehr ärgerlich!
Auch der Booklet-Text wurde offenbar kritik- und verständnislos vom 1990 erschienenen Original übernommen. Wer in einer 2011 erschienenen CD bei der Biografie von Sir Neville Marriner lesen muss „today he is Music Director of the Stuttgart Radio Symphony Orchestra“ kann nur mit dem Kopf schütteln und verzweifeln, denn diese Zeit ist schon fast Zwanzig Jahre lang vorbei.
BITTE, liebe Plattenfirmen, wenn Ihr Euren Käufern schon mal Gehörtes auftischt, bitte lasst doch wenigstens die grundlegenden Aspekte von Qualität nicht auch noch außer Acht. Für mein Empfinden ist die dürftige Ausstattung der neuen Reihe schon Kompromiss genug. Da sollte dann jedenfalls das Technische tiptop sein.
Der Sound ist übrigens der typische Sound einer 1990 aufgenommenen Klassik-CD und war dabei schon seinerzeit nicht unbedingt die Speerspitze der klanglichen Verzückung: Die ganze Aufnahme ist relativ hallig und erinnert somit an den viel gepriesenen Chandos-Sound, ohne jedoch dessen tollen „samtigen“ Flair zu erreichen. Dass die CD offenbar vom Original 1:1 übernommen wurde, zeigt unter anderem die für heutige Neuerscheinungen ungewöhnliche leise Aussteuerung. Hier wurde definitiv nicht remastert! Es wurde lediglich ein blöder Pressfehler eingebaut. Ein Rätsel, wie so etwas wieder zustandekommt.

Nichtsdestotrotz haben wir hier die beste verfügbare Aufnahme von Vaughan Williams‘ 5. und 6. Sinfonie. Der Sound ist immerhin gutklassig, sodass ich mich dazu durchringen könnte, die Höchstwertung von fünf Punkten zu verteilen, wäre da nicht der abscheuliche Pressfehler, der leider zu einem Punkt Abzug führen muss.

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