Go to content Go to navigation Go to search

The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

"Tag der Arbeit"? Ruhig mal anders...

drei CD-Produktionen aus Deutschland und den Niederlanden zeigen uns, dass sich künstlerische Arbeit noch lohnt

von Rainer Aschemeier  •  1. Mai 2012

Dieser Artikel stellt am „Tag der Arbeit“, dem ersten Mai (für eher religiös Orientierte übrigens das Fest „St. Josef, der Arbeiter“), nicht nur zwei vorbildliche Aufnahme-Projekte vor.
Nein, dieser Artikel soll auch die Frage aufwerfen, wofür wir heutzutage eigentlich arbeiten – und letzten Endes auch, was Arbeit eigentlich ist und wie sie uns antreibt.

Aufgrund einer Rezension zur neuesten CD des Duos pianoworte kam ich vor einiger Zeit in Kontakt mit Helmut Thiele. Thiele ist Schauspieler des von ihm mit-gegründeten Thiele-Neumann-Theaters in Osnabrück.
Seine E-Mail, die auf eine kritische Bemerkung in meiner Rezension einging, war einer dieser Momente, in denen man als Rezensent merkt, dass hinter dem, was man bespricht, empfiehlt, kritisiert, nicht nur der Tonträger steckt, den man in den CD-Schacht schiebt. Er ist nur die „letzte Konsequenz“ und verkörpert im Idealfall etwas ganz Anderes.
Man macht sich viel zu selten klar, dass eine CD, die im heutigen Musikgeschäft zum Massenprodukt verkommen ist, etwas voraussetzt, das ganz und gar individuell ist: Eine Idee, eine Begeisterung, eine Auseinandersetzung mit einem Werk, das seinerseits wiederum ganz individuell und besonders ist. Eine Interpretation, die all dies zusammenführt und eine Techniker-Crew, die versucht, das Bestmögliche zu tun, um diese eigentlich wunderbare Synthese auf Tonträger zu bannen.

Es ist dies die Geschichte von drei CD-Projekten, die zeigen, dass es noch immer Menschen, Künstler, Produzenten gibt, die eine CD noch als etwas Besonderes wahrnehmen. Für sie ist eine CD kein Massenprodukt, für sie ist eine CD eine Chance! Eine Chance, um einem Publikum etwas zu präsentieren, das sie tatsächlich für präsentationswürdig halten, auch oder vielleicht sogar gerade dann, wenn absehbar ist, dass die Publikumsresonanz klein bleiben wird.

Beginnen wir also mit der Geschichte von…

Grünhorns Blues

Kennen Sie Alfred Gong? Nein?
Mir ging es genauso. Doch wer das Abenteuer eingeht, sich einmal in Alfred Gongs Texte – er war übrigens Schriftsteller – zu versenken, wird ungläubig staunen: Wie kann so jemand, dem man eine literarische Begabung attestieren möchte, die als nächst liegenden Vergleich am ehesten noch Kurt Tucholsky vor dem inneren Auge heraufbeschwört, so unbekannt sein?
Das ist doch einfach ungerecht!

So oder ähnlich dachten wohl auch der Schauspieler Helmut Thiele, der Komponist Mitsch Kohn, das Holzbläserquintett con passione und die Klasse 9B des Ratsgymnasiums Osnabrück, als sie im Auftrag dreier Projektträger die hier vorgestellte CD einspielten.

Die daraus hervorgegangene CD-Produktion ist so bemerkenswert wie die Gedichte von Alfred Gong, und sie vermitteln viel von der Tragik des Autors.
Gong war 1920 in der Bukowina geboren worden. Als Jude erlebte er schon früh die Auswirkungen des Nazi-Terrors. Seine Familie wurde deportiert, er selbst im Czernowitzer Ghetto interniert. Nach dem Krieg zog es ihn zunächst nach Wien, dann weiter nach Amerika. Das Land der großen Hoffnungen.
Doch Gong wurde – ähnlich wie viele der von Europa in die USA übersiedelten Künstler – in seinen Hoffnungen, die er in sein „neues Leben“ in den Vereinigten Staaten investiert hatte, schwer enttäuscht. Er schrieb tief melancholische Gedichte, die bis heute weder etwas von ihrem eigenartigen Zauber, noch etwas von ihrer frappierenden Aktualität verloren haben. Ja, man könnte manche Zeile aus Gongs Texten wohl auch heutigen US-Immigranten noch in den Mund legen. Das ist zeitlose Kunst von einiger Bedeutung!

Helmut Thiele rezitiert auf der CD „Grünhorns Blues“ die Gedichte Alfred Gongs sowie eine Kurzgeschichte aus Gongs Feder. Die Gedichte sind zum Teil als Melodrame zu Musik gesetzt, die vom niedersächsischen Komponisten Mitsch Kohn stammt. Er unterlegte diese Reise in das Werk Alfred Gongs mit ganz zauberhaften, von jüdischer Klezmer-Musik beeinflussten Klängen, die man wohl nicht eben als „Avantgarde“ bezeichnen kann, die aber zur Thematik bestens passen und ganz einfach so schön sind, dass sie sich einer formalen Kritik praktisch entziehen.

Es sind CDs wie diese, denen man anmerkt, dass die Welt da draußen so schlecht nicht sein kann: Es gibt noch Menschen, die Mauerblümchen wie Rosen behandeln.

Es gibt diese CD!

Und es gibt noch eine weitere Geschichte. Es ist die Geschichte von …

Valthermond Recordings

Daan van Aalst ist Produzent – und was für einer! Er ist einer derjenigen, denen es nicht genügt, ein Klavier einfach irgendwie „aufzuzeichnen“. Wenn schon, dann soll es klingen wie in Natur – als sei es im Raum des Hörers vor der HiFi-Anlage präsent.

Es sind Aufnahmen, die den Hörer zu der gedanklichen Frage veranlassen, warum eigentlich nicht jede Klavier-CD so wunderbar natürlich und präsent klingt, warum nicht jedes Label auf der Welt so viel Energie investiert, um CD-Aufnahmen mit Leben zu erfüllen – oder anders formuliert: Um das Leben, dass mit der Interpretation von Musik in die Welt gesetzt wird, besser einfangen zu können, reproduzierbar machen zu können, unvergänglich werden zu lassen.

Doch diese Geschichte dreht sich nicht nur um Daan van Aalst. Sie ist vor allem die Geschichte von Rian de Waal.

Er, der Finalist des prestigereichen „Queen Elizabeth“-Klavierwettbewerbs, der Schüler von Rudolf Serkin und Leon Fleisher, gehörte in seinem Heimatland, den Niederlanden, zu den prominentesten Pianisten.

2011 verstarb Rian de Waal nach schwerer Krankheit im Alter von nur 53 Jahren. Zusammen mit Daan van Aalst aber zeichnete er bis kurz vor seinem Tod noch CDs auf, die sein Klavierspiel festhielten und zeigten, welch großartiger Interpret von uns gegangen ist.

Die Aufnahmen entstanden in einem sehr intimen Rahmen in den Räumlichkeiten von Rian de Waals Zuhause in dem Dorf Valthermond in den südöstlichen Niederlanden. Sie sind erfüllt von einer bemerkenswerten Innigkeit des Vortrags.

Die Sonate Nr. 21, D.960 von Franz Schubert erhält in der Interpretation von Rian de Waal jenen unwirklich erscheinenden „Touch“, der Schuberts späte Werke immer dann auszeichnet, wenn deren Interpreten in der Lage dazu sind, diese „Saite“ von Schuberts Musik auch anklingen zu lassen. Sie sind gekoppelt mit Liszt-Transkriptionen von Schubert-Liedern, die man nicht oft hört.

Alles kommt im hoch auflösenden SACD-Sound, und der lässt einem glatt den Atem stocken: Räumlichkeit pur, akustische Auflösung, die vermeintlich jede Saite des Klaviers einzeln hörbar macht, umwerfende Natürlichkeit.
Die Aufnahme stammt aus dem Dezember 2010. Ein Baum, der sein Laub abgeworfen hat, ziert das unkonventionelle Cover der CD; ein Stück, das Schubert erst kurz vor seinem Tod vollendete wird von dem Pianisten vorgetragen, der kurze Zeit nach dieser Aufnahme selbst verstarb.

Sie ist allein deshalb schon ein „harter Brocken“, diese Schubert-SACD. Wer die Vorzeichen der Aufnahme zu deuten versteht, kann diese Musikdarbietung nicht ohne Kloß im Hals hören.
Es ist eine der ohne Abstriche besten Schubert-Interpretationen, die ich in den letzten Jahren zu hören bekommen habe.

2004 entstand die CD mit Rian de Waals Einspielungen von Bach-Transkriptionen aus der Feder von so renommierten (Spät-)Romantikern wie Liszt, Busoni, Brahms und Hess. Auch sie geriet in hohem Maße zum beeindruckenden Tondokument, zumal man viele der hier vorgestellten Transkriptionen nur selten einmal auf CD zu hören bekommt. Es ist recht bemerkenswert, dass die Aufnahme ganz anders klingt, obwohl Interpret, Producer, Aufnahmeort und sogar das Instrument ganz gleich sind. Sie zeigt, wie sehr der Interpret Einfluss auf das hat, was wir letztendlich hören, denn vor allem das Klavier klingt hier, als wäre es ein völlig anderer Klangkörper.

Und so sind auch diese beiden CDs mehr als die Verkörperung eines Massenprodukts des Klassik-Betriebs. Auch sie atmen Seele, wollen etwas, fordern den Hörer, zwingen uns, sich mit der Kunst auseinanderzusetzen, die stets das will: Das Beste und das Schlimmste in uns stetig neu hervorzuholen, zu reflektieren und zu durchleuchten. Kunst ist unser Antrieb, unsere Passion, unsere Verzweiflung. Sie ist Lebenselixier, Todesangst und Todessehnsucht gleichermaßen.

An den hier vorgestellten drei CDs kann man deshalb nicht spurlos vorübergehen. Sie gehören zu den Kronjuwelen der aktuellen Musik-Szene.

Keiner ist mit diesen drei CDs reich geworden oder wird reich werden. Keiner will mit diesen CDs Geld machen. Die Produzenten der hier vorgestellten Tonträger wären wahrscheinlich schon froh, wenn sich nach Abverkauf herausstellt, dass die Produktionskosten halbwegs gedeckt werden konnten.

Und hier kommen wir zur eingangs gestellten Frage zurück: Wofür arbeiten wir? Ist es nur für’s Geld?

Nein, es muss mehr sein. Arbeit kann auch Passion und Leidenschaft sein, ein Sich-einsetzen für die Sache, die man selbst für so wichtig hält, dass man auch dafür arbeitet, wenn es keinen „Lohn“ abwirft. Manchmal ist gerade das schon Lohn genug.

Übrigens: Auch www.the-listener.de arbeitet komplett non-profit. Aber das nur am Rande…
——————————————————————————————————————————————————————
Die CDs:
Grünhorns Blues
2010, Alfred Gong Gesellschaft
Erhältlich nur im Buchhandel (auch online-Buchhandel)
ISBN: 978-3-89086-481-5

Rian de Waal plays Schubert
(The Valthermond Recordings Vol. 2)
2012, Hybrid-SACD
EAN 8713897903027>
(auch erhältlich als mp3-download, z. B. im Apple itunes-Store)

Rian de Waal plays Bach transcriptions
(The Valthermond Recordings Vol. 1)
2012, CD
EAN 8713897903010>
(auch erhältlich als mp3-download, z. B. im Apple itunes-Store)

Stöbern

Verwandtes / Ähnliches:

Archiv

Alle Artikel können im Archiv nachgeschlagen werden. Dort ist auch eine gezielte Suche möglich.