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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Musikgeographie! Schon mal gehört?

Wie Geographen zum Themenkomplex Mensch - Umwelt - Musik forschen...

von Rainer Aschemeier  •  2. April 2012

MENSCH + NATUR = KUNST!

Die Naturdarstellung ist seit den Anfängen der Menschheit ein wichtiges Element der anthropogenen Kulturgeschichte. So beinhalten z. B. die Höhlenmalereien von Trevillion (Mittelsteinzeit) und die Reliefs in den Tempeln von Haġar Qim und Mnajdra auf Malta (Jungsteinzeit), naturbezogene Darstellungen von Tieren, Menschen und Landschaften. Seitdem sind Natur- und Landschaftsbeschreibungen von zentralem Symbolgehalt in jeder Kunstform, auch in der Musik.

Umweltbezüge in der abendländischen Musik tauchten urkundlich erstmals im Mittelalter auf. Die Minnesänger – allen voran WALTER VON DER VOGELWEIDE und ADAM DE LA HALLE – als frühe Vertreter einer abendländischen Säkularmusik, etablierten Naturbeschreibungen als festen Bestandteil ihrer Dicht- und Sangeskunst. Womöglich hatten auch die Alten Griechen bereits Musik im Wechselbezug zwischen Mensch und Umwelterfahrung gesehen, doch das ist bislang nicht belegbar.
In der Musik der Renaissance versuchten Komponisten erstmals Naturphänomene nicht durch begleitende Dichtung, sondern durch Musik selbst auszudrücken. Als Vermittlungselemente dieser frühen „Tonmalereien“ dienten Spieltechniken und Tonfolgen, die in der Art von „Spezialeffekten“ Naturphänomene zu imitieren versuchten.

NATURIMITATION IM BAROCKZEITALTER

Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Entwicklung im italienischen Barock, womit ein geographischer Aspekt hinzukommt: während bei den deutschen Meistern BACH, BUXTEHUDE oder PACHELBEL Naturimitationen kaum einmal vorkamen, war die Musik der italienischen und britischen Barock-Komponisten (zumal in deren Opern) recht häufig auf Tonmalereien aufgebaut. Besonderes Gewicht besitzt in dieser Hinsicht natürlich das Werk ANTONIO VIVALDIS: Neben den Violinkonzerten „Le Quattro Stagioni“ aus dem Konzertzyklus „Il Cimento dell’armonia e dell’inventione“ (Op. 8), verfasste er weitere programmatische Konzerte, z. B. „Il Rosignuolo“ (RV 335), „Il Gardellino“ (RV 428), „La Notte“ (RV 439), „La Tempesta di mare“ (RV 253), etc.
Vom italienischen Barock ausgehend verbreitete sich das Stilmittel des „Malens mit Tönen“ vor allem an deutschen und habsburgischen Adelshöfen. Im Wien des 18. Jh. entwickelte sich die sog. „Wiener Klassik“. HAYDN übernahm (in diesem Fall aber wohl in Anlehung an den „Musikalischen Kalender“ seines Amtsvorgängers am Esterhazy’schen Hof, den Komponisten Gregor Joseph Werner; s. auch hier ) nicht nur das „Quattro Stagioni“-Konzept für sein Oratorium „Die Jahreszeiten“, sondern schrieb – wie TELEMANN – auch Werke über die Tageszeiten (Symphonien Nr. 6-8) und das Feuer (Symphonie Nr. 59).

WANDEL DER MUSIKALISCHEN NATURDARSTELLUNG

LUDWIG VAN BEETHOVEN schuf mit seiner Symphonie „Pastorale“ einen Vorläufer der Naturauffassung der Deutschen Romantik. Satzbezeichnungen wie „Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande“, „Szene am Bach“, „Gewitter, Sturm“ und „(…) Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm“ sind ein Novum in der Musikgeschichte Mitteleuropas: Stand bisher vor allem die reine Imitation von Naturlauten als Tonmalerei auf der Agenda der Komponisten, so stellte BEETHOVEN einen kognitiven Bezug von der Umweltwahrnehmung zur Gefühlsebene her. Beethovens „Pastorale“ ist somit ein musikalisches Äquivalent zu den aufklärerischen Gedanken von HERDER, LEIBNIZ und ROUSSEAU, die ebenfalls in ihren Schriften der Natur zentrale Bedeutung zumaßen .

In der Romantik fand eine enge Bindung der musikalischen Entwicklung an die Strömungen der Literatur statt. Dies äußerte sich u. a. in einem Reichtum von Liedkompositionen SCHUBERTs, SCHUMANNs und LOEWEs. Der Naturbezug entsteht im romantischen Lied durch die Verschmelzung literarischer und musikalischer Inhalte – exemplarisch zu hören z. B. in SCHUBERTs Liederzyklus „Die Winterreise“ (D 911, Op. 89), aber auch in anderen Liedern, wie z. B. „Im Frühling“, „Die Forelle“ oder „An den Mond“. In der Symphonik entwickelte man BEETHOVENs Ansatz – weg von der Tonmalerei, hin zur symphonischen Dichtung – weiter. Der in Kassel wirkende LOUIS SPOHR war der bekannteste deutsche Komponist seiner Zeit und schuf mit seiner Symphonie „Die Jahreszeiten“ (Op. 143) ein Werk, das zweifellos europaweiten Einfluss gehabt hat.

Feststellbar ist dies u. a. bei dem Schweizer Romantiker JOSEPH JOACHIM RAFF, der womöglich auch in der Nachfolge SPOHRs nicht weniger als sechs Symphonien mit programmatischen Natur- und Landschaftsinhalten komponierte.
Zentrale Bedeutung für die weitere Entwicklung hatte FRANZ LISZT, der sich von der strengen Form der Symphonie lossagte und die formal weitgehend regelfreie „symphonische Dichtung“ ins Leben rief. Die neue Gattung bildete einen äußerst erfolgreichen Kulminationspunkt für Komponisten aus aller Welt (s. u.) und hatte selbst Einfluss auf Komponisten der neoklassischen Moderne, wie z. B. GIAN FRANCESCO MALIPIERO .

In der Spätphase der Romantik begannen sich die musikalischen Nationalströmungen zu entwickeln. Musikgeographisch gesehen löste sich jetzt der Trend zur Naturbeschreibung in der E-Musik – nach einem weiteren Höhepunkt durch Naturbezüge in den Opern Wagners – von seinen austro-deutschen Wurzeln und fächerte sich stilistisch und geographisch auf.
Naturbeschreibungen in der Musik nahmen überhand und waren nun aus fast allen Ländern Europas zu verzeichnen. Nur einige von vielen möglichen Beispielen sind: SMETANA (Tschechien) – Zyklus von symphonischen Dichtungen „Mein Vaterland“ inkl. „Die Moldau“ (1874) und „Aus Böhmens Hain und Flur“ (1875); SIBELIUS (Finnland) – die „Natursymphonien“ Nr. 5-7 sowie einige Sinfonische Dichtungen („Die Oceaniden“, „Tapiola“, etc.); DVOŘÁK (Tschechien) – „Im Reich der Natur“ Op. 93 (1892) und „Die Waldtaube“ Op. 110 (1896); DEBUSSY (Frankreich) – „La Mer“ (1905); MALIPIERO (Italien) – „Sinfonia del mare“ (1906); ALFVÉN (Schweden) – Symphonie Nr. 4 „von den äußersten Schäreninseln“ (1919); VAUGHAN WILLIAMS (Großbritannien) – „A Sea Symphony“ (1909), „A Pastoral Symphony“ (1916-1921) und „Sinfonia Antartica“ (1949-1953); usw.

DIE AVANTAGARDE: DER BRUCH MIT DEN KONVENTIONEN

In der stilistisch divergenten Moderne nahm die Bedeutung von naturdeskriptiver Musik ab. Vertreter eines musikalischen Jugendstils, z. B. MAHLER, SCHREKER oder der frühe ARNOLD SCHÖNBERG, abstrahierten Naturbeschreibungen in ihren Werken und stellten die „absolute Musik“ (von einigen konkreten „Spezialeffekten“ wie den berühmten Mahler’schen Kuhglocken einmal abgesehen) wieder in den Vordergrund. Nachdem die Dodekaphonisten der SCHÖNBERG-Schule (z. B. BERG, WEBERN und KŘENEK) nach anfänglicher Annäherung (z. B. „im Sommerwind“ (Webern); „Verklärte Nacht“ (Schönberg)) Naturbezüge in der Musik schließlich radikal ablehnten, entwickelte sich in den USA als Kontrast dazu eine Komponistengeneration von anachronistischen Neo-Romantikern (z. B. HANSON, DIAMOND und BARBER), von denen die amerikanische Avantgarde in Gestalt von COPLAND, IVES und HARRIS das Element der Natur- und Landschaftsbezüge in der Musik beibehielt.

Wichtige Werke der Moderne mit Naturbezug schrieb auch der Kosmopolit IGOR STRAWINSKY, jedoch geprägt durch religiöse und neupaganistische Tendenzen – etwa „Le Sacre du Printemps“ (1913, neopaganistisch) und „The Flood“ (1962, auf biblischen Motiven basierend). Seine Werke sind besonders hervorzuheben, da sie auch in der künstlerischen Aussage auf Wechselwirkungen zwischen Naturphänomen und menschlicher Existenz abzielen.

WAS IST MUSIKGEOGRAPHIE?

Die Disziplin der Musikgeographie ist eine traditionell unterrepräsentierte Ausrichtung des Fachs Geographie, deren deutschsprachiger Hauptvertreter MANFRED BÜTTNER ist.
Derzeit wird die Musikgeographie von einer Generation junger Forscher wiederentdeckt, u. a. an Forschungsinstituten in Leipzig. Die Musikgeographie stellt die Gratwanderung zwischen Geschichts-, Gesellschafts- und Geowissenschaften dar. Da sie, ähnlich wie z. B. die Religionsgeographie, ein wissenschaftliches Nischendasein führt, bedarf sie der besonderen Förderung.

Musikgeographie ist ungeheuer vielfältig. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum in der Bibel ausgerechnet von den Posaunen von Jericho die Rede ist? Warum nicht Trompeten oder Jagdhörner? Die Musikgeographie hat es untersucht und anhand von Ausbreitungskarten die Entwicklung und Ausbreitung der Instrumentengattung der Posaune darzustellen versucht.
Warum hören junge Vorstadt-Kids in der Regel Hip-Hop? Wie verändern sie dadurch (zum Beispiel durch Graffiti oder Einrichtung von Szene-Treffpunkten) die Umwelt in ihrer direkten Umgebung oder gar in der ganzen Stadt? Die Musikgeographie untersuchte auch das.
Wie schlägt sich das Naturerlebnis in Songtexten nieder? US-amerikanische Musikgeographen haben sich auch damit beschäftigt.

NEUGIERIG? HIER GIBT ES LESESTOFF!

Die ausführlichsten deutschsprachigen Veröffentlichungen zur Musikgeographie stammen bislang von ADAMEK-SCHYMA (2002), BÜTTNER (1990) und KIM (1987).
Die Musikgeographie hat in den USA einen wesentlich größeren Stellenwert als hierzulande. Als ihr dortiger Hauptvertreter kann wohl GEORGE CARNEY gewertet werden, der in den letzten 20 Jahren rund 25 Beiträge zum Thema Musikgeographie beigesteuert hat. Sein Lehrbuch „The Sounds of People and Places: A Geography of American Folk and Popular Music” liegt in mehrfacher Neuauflage vor. Weitere grundlegende Beiträge aus dem anglophonen Raum stammen von KONG (1995) und SMITH (1997).
Zum Thema “Umweltwahrnehmung in der Musik” existiert eine deutschsprachige projektbezogene Arbeit des Geographen WINKLER (1992).

Es ist, wie so häufig: Wo sich Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften treffen, wird es in Deutschland eng in Sachen Akzeptanz und Mut zur Förderung. In Amerika sieht man das nicht nur entspannter, sondern auch pragmatischer. Die wichtige Reflektionsebene der Musik ist eine der direktesten Reaktionen auf Umwelteinflüsse für den Menschen.
Wahrscheinlich muss es der Forschungselite Deutschlands erst noch dämmern, wie viel bislang weitgehend unangetastetes Neuland hier der Entdeckung und Erforschung harrt. Hoffentlich wird das irgendwann einmal auch von denen, die etwas daran ändern könnten, bemerkt!

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