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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

M. Ravel / E. Bloch / L. Janáček - Musik für Violine und Klavier
C. Åstrand (Geige), P. Salo (Klavier)

(2012)
Orchid Classics / Naxos

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Maurice Ravel / Ernest Bloch / Leoš Janáček - Musik für Violine und Klavier (CD + DVD)

Irrlichternde Kammermusik-Amour fou - Atemberaubend!

von Rainer Aschemeier  •  1. August 2012
Katalog-Nr.: ORC100022 / EAN: 5060189560226

Ganz hin und weg bin ich von einer neuen CD-/DVD-Kombi des britischen Labels „Orchid Classics“.
Sie wartet mit drei Kompositionen für Violine und Klavier auf, die zu den schönsten gehören, die im 20. Jahrhundert geschrieben wurden.
Mit Ravels Sonate für Violine und Klavier aus den Jahren 1923-27, Ernest Blochs „Poème mystique“ (1924) und Leoš Janáčeks Violinsonate (1914) hat das Duo Christina Åstrand (Geige) und Per Salo (Klavier) sehr zielsicher ausgewählt.

Abgesehen davon, dass die Kombination der Stücke kaum schöner sein könnte, ist auch die Interpretation absolut einzigartig: Selten habe ich einen schöneren Geigenton gehört, als bei Christina Åstrand. Mit ihrer Stradivari aus dem Jahr 1705 erzeugt sie einen Klang, der einem im positiven Sinne die Nackenhaare senkrecht stellt. Auch das Klavierspiel Per Salos ist Gänsehaut pur! Selten habe ich ein Duo gehört, dass so hervorragend zusammen harmoniert. Per Salos atemberaubende Rubati scheinen in Christina Åstrands sensiblen Geigenspiel ihren kongenialen Gegenpart zu finden. Hier musizieren zwei zusammen, die sich blind verstehen, die vorauszuahnen scheinen, wann und wie der/die Andere gleich musikalisch agieren wird.
Es gibt Momente auf dieser CD, die so innig und beinahe transzendental sind, dass man mit atemloser Spannung vor der HiFi-Anlage verharrt und sich mit den Fingernägeln in die Sessellehne krallt. Vor allem im ersten Satz von Ravels wunderbarer Sonate und in Blochs poème mystique finden sich solche Stellen. Sie zählen mit zum Ergreifendsten und einfach nur Großartigsten, was ich nicht nur in diesem Jahr sondern überhaupt jemals in Sachen Kammermusik auf CD gehört habe.

Auch Leoš Janáčeks Violinsonate, die er 1914 schrieb, erfährt auf dieser fabelhaften Neuerscheinung eine mustergültige Interpretation. Es liegt nahe, dieses melancholisch-dramatische Werk mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zusammenzubringen, jedoch ist dies vielleicht auch eine dualistische Einschätzung die sich nicht halten lässt. Unter den drei Sonaten ist Janáčeks Stück jedefalls die formal klassischste und enthüllt in ihrer Schlichtheit einen weiteren funktionalen Aspekt dieser CD: Den von Orchid Classics-Tonmeister Jan Oldrup absolut ungewöhnlich und individuell angelegten Sound.

Sehr, sehr hallig – man mag in Sachen Klangeindruck getrost von Tropfsteinhöhle sprechen – und ätherisch „fließen“ hier Geige und Klavier durchs CD-Programm. Mit einer realistischen Klangumgebung hat das nichts, aber auch nicht das Geringste zu tun.
Normalerweise finde ich das furchtbar, und schätze es gerade bei Kammermusikaufnahmen, wenn der zuständige Tonmeister die Einspielung auch akustisch kleinräumig anlegt. Hier aber ist es anders: Diese CD erinnert mich an die frühen Großtaten des britischen Nimbus-Labels. Auch dessen CDs aus den 1980er-Jahren waren unbarmherzig hallig, dabei aber so entwaffnend klangschön, dass man beide Augen zugedrückt hat und sich einfach nur vor den Boxen dem verträumten Dahinschmelzen überantworten konnte.
Hier ist es ebenso: Diese CD ist der pure Schönklang – von vorne bis hinten! Sie kommt mit ihrem ätherischen, schwebenden Hall dem sehr innigen Vortrag der Interpreten entgegen. Interpreten und Toningenieur bilden eine kreative Symbiose, die nur selten so stark ausgeprägt ist wie hier.
Man versuchte wohl gar nicht erst den Klang der Veröffentlichung in einem natürlichen Rahmen anzusiedeln. Vielmehr legte man den Aufnahmesound von Beginn an in einer künstlichen, fast endlos erscheinenden Hallumgebung an, die es – so bin ich mir sicher – auf diesem Planeten „in Natur“ so nicht gibt.

Dass dieser Ansatz kein Zufall, sondern vielmehr die reine Absicht ist, zeigt auch die DVD, die man mit dem Kauf dieser Novität miterwirbt.
Sie zeigt Åstrand und Salo in teils futuristisch anmutenden Kulissen und/oder leerem, stimmungsvoll illuminierten Konzertsaal bei der Arbeit: der Interpretation der drei Stücke, die wir schon von der CD her kennen.

Alles an dieser CD-/DVD-Kombi scheint uns entgegenzurufen: Diese Musik ist nicht irdisch, sie kommt irgendwie aus einer anderen Welt.
Das ist meines Erachtens ganz klar von den „Machern“ dieser Produktion so kalkuliert – und wenn ich von „Macher“ rede, meine ich damit durchaus auch die Interpreten. Hier kann sich keiner rausreden…

...muss sie/er aber auch nicht. Diese CD funktioniert genau so, wie sie ist. Sie gehört zu den zwar unrealistischsten und gekünsteltesten Produktionen, die ich in diesem Jahr bislang gehört bzw. gesehen habe. Gleichzeitig aber stehe ich ihr gewissermaßen wehrlos gegenüber und bekomme den Eindruck nicht los, dass es so, genau so richtig ist.

Fazit: Für mich eine der faszinierendsten Neuerscheinungen der letzten Jahre und ganz heißer, geradezu glühender Anwärter auf den Titel „CD des Jahres“, hier bei www.the-listener.de. Diese CD-/DVD-Produktion ist in höchstem Maße artifiziell und ein Kunstwerk in sich.
Wer eine realistische Werkwiedergabe sucht, muss woanders fündig werden. Diese Produktion spricht Herz und Seele an – und zwar auf eine so entwaffnende Art und Weise, dass man magisch von ihr angezogen wird. Sie ist so sinnlich und leidenschaftlich, letzen Endes wohl aber auch so irreführend melancholisch wie eine Amour fou.

((Das Hörexemplar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise vom Vertrieb des Labels, der Firma Naxos, zur Verfügung gestellt.))

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