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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

J. Cage - "etudes australes"
Sabine Liebner

(2011)
wergo / note 1

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John Cage — "etudes australes"

Lost in the stars...

von Rainer Aschemeier  •  23. November 2011
Katalog-Nr.: WER 6740 2 / EAN: 4010228674026

Über John Cage kann man denken, wie man will. Die Einen sehen in ihm ein musikalisches Genie, vielleicht das größte nach Strawinsky, die Anderen sprechen ihm sogar den Status als Komponist ab. Letztere Extremmeinung ist sogar gar nicht so abwegig, wenn man einige seiner Werke näher betrachtet. Die auf der vorliegenden Novität neu eingespielten „etudes australes“ zum Beispiel sind Meisterwerke aus John Cages aleatorischer Phase. Das bedeutet, dass sowohl bei ihrem Schöpfungsprozess, der „Komposition“, der Zufall ein ebenso wesentlich bestimmendes Element war, als er es auch bei der „Nachschöpfung“, der Interpretation, ist.

Cages „Kompositionsmethode“: Man nehme Sternkarten aus dem „Atlas Australis“, einem Sternenatlas und ermittle per asiatischem Zufallsorakel die Sterne, die per Abpausen durch Transparentpapier als „Noten“ eingetragen werden. Dies resultierte in Einzeltönen ebenso, wie in komplexen Akkorden, deren vier oder fünf Töne sich über die gesamte Klaviatur erstrecken. Als zusätzliche „Hürde“ für den Interpreten legte John Cage fest, dass sich die beiden Hände des Pianisten im Prinzip bei jedem neu zu spielenden Ton abwechseln sollen und einander nicht „helfen“ dürfen. Dies ist dann der „Etüdenaspekt“ im Sinne des John Cage.
Tempovorgaben gibt es nicht. Wohl aber gibt es Passagen, die man als normal gebauter Mensch gar nicht auf einer Klaviatur spielen kann, es sei denn man hätte drei oder vier Hände. Somit kommt auch dem Interpreten eine wesentliche Rolle im „Kompositionsprozess“ zu: Er allein bestimmt, wie langsam oder schnell er die Stücke spielen will, und er bestimmt auch, wie er mit den unspielbaren Stellen umgeht: Lässt er Töne weg? Versucht er es, wie einst Mozart, mit der Nase? Alles im Ermessen des Interpreten…

Es wundert einen nicht, sowohl ob dieser Schwierigkeiten als auch ob des durch den Kompositionsprozess bedingten Fehlens jeglicher Tonalität, Serialität oder wie auch immer gearteter „Regeln“, dass Cages „etudes australes“ schon kurz nach ihrer Erstveröffentlichung Zitate hervorgebracht haben wie dieses: „In gewisser Weise macht sich die Musik über die Aufführung lustig, oder vielleicht sollte man sagen, wie man es oft bei der Musik von Cage tun muss, die Idee ist das Stück, und daher ist eine Aufführung überflüssig. Der Notentext wird wunderschön abgeschrieben, und ich vermute, dass er, selbst wenn eine Aufführung möglich wäre, ... interessanter anzuschauen als anzuhören ist.“
Dass der Autor dieses Zitats, das einer amerikanischen Musikzeitung aus den 1970er-Jahren entspringt, (zum Glück) nicht die Wahrheit gepachtet hatte, zeigt unter anderem die nun vorliegende wunderbare Neueinspielung der Stücke auf dem deutschen Label „wergo“. Beim gleichen Label liegt bereits eine Gesamteinspielung der „etudes australes“ von der Widmungsträgerin dieser Stücke vor, der Pianistin Grete Sultan. Doch auf diesen neu erschienenen vier CDs greift Sabine Liebner in die Tasten, die sich in den vergangenen Jahren viel Renommee als Interpretin für Neue Musik erworben hat.

Wie wir bereits festgestellt haben, kann ja jeder Interpret seinen Ansatz, diese „unaufführbaren“ Stücke dennoch aufzuführen, selbst bestimmen. Sabine Liebner entschied sich für einen verblüffend einfachen und gleichermaßen extremen Ansatz: Sie eröffnet in einem Interview, das im Booklet abgedruckt ist, dass sie die Idee hatte, dass jede Sternkarte, die John Cage bei der Komposition seiner „Etüden“ zugrunde lag, gleich groß war. Demnach müsse auch jede der einzelnen „etudes australes“ gleich lang interpretiert werden. Dies resultiert in einer Spielzeit von rund acht Minuten pro Etüde, derer es vier Bücher á acht Etüden gibt. Das ist, wie gesagt, eine ebenso verblüffende, wie einfache Lösung, und sie macht mehr Sinn, als so manch anderer Interpretationsansatz, der sich am Markt finden lässt. Ob dieses Streben zu einer „künstlichen Ordnung“ in einem Werk, dessen Entstehung eigentlich das Chaos, nämlich der Zufall, war, John Cage gefallen würde, kann man nicht sagen. Ich weiß aber, dass es mir persönlich sehr gut gefällt. Ich denke auch, dass es vielen Menschen den Zugang zur Musik erleichtern wird.

Wer sich einmal im Sinne von John Cage von altüberlieferten „Hörerwartungen“ freigemacht hat, kann diese Musik durchaus auch „schön“ finden. Ich persönlich höre die „etudes australes“ sehr sehr gerne. Sie sind für mich subjektiv entspannender, als jedes spätromantisch-symphonische Bombastgetöse. Gerade in ihrer puren, unangreifbaren Reduktion auf das Wesentliche und in ihrem Offenbarungseid gegenüber dem Zufall, was für mich auch in gewisser Weise eine Art Öffnung gegenüber dem „Schicksal“ symbolisiert, sind die „etudes australes“ in meinen Augen ein zutiefst bewegendes, wichtiges und schlichtweg auch schönes Beispiel für das Beste in der zeitgenössischen Musik. John Cage bleibt in seiner Zurückhaltung und seiner kompromisslosen Auslieferung sich selbst gegenüber der durch einen Zufallsprozess angestoßenen Musik-Schöpfung daher unerreicht.

Die Aufnahme ist durch den Deutschlandfunk klar und räumlich eingefangen worden. Die Auflösung ist vorbildlich und enthüllt die Obertoneffekte, die durch John Cages präpariertes Klavier hervorgerufen werden.

Fazit: Dieses 4-CD-Set ist jeden Cent wert und wird aufgeschlossenen Hörern einen wahren Kosmos grandioser Musik eröffnen. Für mich ein heißer Kandidat zur CD des Jahres. Aber solche „Kandidaten“ gab es ja in diesem Jahr jede Menge…

((Das Hörexemplar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise von der Firma „wergo“ zur Verfügung gestellt.))

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