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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Berlioz Fantastique?

Ist die neue 10 CD-Box mit historischen Aufnahmen beim documents-Label ihr Geld wert?

von Rainer Aschemeier  •  11. Juni 2014

Große CD-Boxen mit viel Inhalt zum kleinen Preis waren für die kränkelnde Klassik-Branche der 2000er-Jahre der große Rettungsanker. Was Low Budget-Labels wie Brilliant Classics, documents und Naxos vormachten, machten alle nach. Heute sind CD-Boxen so zahlreich wie Sand am Meer, sodass man meistens nicht weiter staunt, wenn eine weitere 10 CD-Box unter’s Volk geworfen wird.

Eine Ausnahme aber gibt es dann doch: Hector Berlioz`Werk war bislang boxenmäßig ein nur wenig beacktertes Feld. Zwar gab und gibt (?) es noch eine eher lieblos zusammengestellte Berlioz-Box bei Brilliant Classics, allerdings beschränkte sie sich – so weit ich mich erinnere – auf das symphonische Werk des französischen Komponisten.
Natürlich gibt es daneben noch die Referenzedition des Berlioz-Werks in gleich mehreren, nach Werkgattungen sortierten Boxen in der Interpretation von dem Berlioz-Dirigenten par excellence, Sir Colin Davis. Dass die Berlioz-Jüngerschaft nur dessen Philips-Aufnahmen goutiert, während seine RCA-Einspielungen fast bei allen, die sich „Fachmann“ schimpfen, abgelehnt werden, war mir zwar nie so ganz verständlich, aber sei’s drum.

Nun erschien bei „documents“ eine 10 CDs beinhaltende Berlioz-Box mit vielen Hauptwerken und netten Beigaben zum Supadupadumpingpreis, die vorwiegend (wenn auch nicht ausschließlich) auf historische Aufnahmen zurückgreift. Wir haben mal reingehört: Wird man mit dieser Werkedition für gerade einmal ca. 10-12 € wirklich glücklich?

Ein Rundumschlag: Die „Symphonie Fantastique“ liegt hier in einer seltenen Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Igor Markevitch aus dem Jahr 1954 vor. Wohlgemerkt: Dies ist nicht die einstige Deutsche Grammophon-Aufnahme Markevitchs mit dem Orchestre des Concerts Lamoureux, die unter Insidern als Meilenstein der Berlioz-Interpretation gilt.
Diese Markevitch-Aufnahme könnte eine Rundfunkaufnahme sein, denn zumindest klingt sie so: Relativ klein besetztes Orchester, offensichtlich eine Mono-Aufzeichnung (trotz des schon recht späten Aufnahmedatums), alles klanglich ziemlich „nah dran“. Das spricht in meinen Ohren alles für eine Rundfunkaufnahme aus den 1950er-Jahren. Die Interpretation setzt auf sauberste Akkuratesse und exkateste Trennschärfe. Die bissigen, satirischen Seitenhiebe der Partitur, die delirische Qualität der Musik in den beiden Schlusssätzen lässt Markevitch fast komplett beiseite, dirigiert diese Revolutionsmusik für heutige Ohren bemerkenswert brav. Geschmackssache.
Eine gänzlich vernachlässigenswerte Einspielung des „Römischen Karnevals“ aus den Händen von Sir Charles Mackerras wird durch die absolute und zeitlose Referenzeinspielung der Sinfonie „Harold in Italien“ wieder gut gemacht. Es handelt sich hier um die legendäre, einstige RCA-Aufnahme des Boston Symphony Orchestra unter Leitung von Charles Münch mit dem Solisten William Primrose. Diese Einspielung ist so genial, dass man es gehört haben muss wie genial sie ist. Absolute Interpretationselite!
Gleiches gilt für Münchs Einspielung von „Les nuits d‘été“ mit der unvergesslichen Victoria de los Angeles. Auch hier gilt: Besser geht’s nimmer! Einfach fabelhaft, wie emotionsgeladen und feindynamisch Münch diese Musik dirigierte. Vielleicht hat es nach ihm nie wieder einen besseren Berlioz-Dirigenten gegeben. Phänomenal!
Die Sinfonie „Roméo et Juliette“ erklingt in einer sehr sehr frühen Mono-Aufnahme Lorin Maazels mit den Berliner Philharmonikern aus dem Jahr 1957. Hier stimmt eigentlich alles, lediglich der Klang kommt etwas scharf und zu mittenbetont aus den Boxen. Nichtsdestotrotz kann man schon bei dieser frühen Aufnahme erahnen, wie gut Maazel diese Musik liegt. Später sollte er ja mit dem Cleveland Orchestra eine der genialsten Aufnahmen der „Symphonie Fantastique“ vorlegen, und auch „Roméo et Juliette“ hat er später noch mehrmals eingespielt.

Für „La damnation de Faust“ gibt es eh nur wenig Auswahl am Markt, wenn man es auf eine Gesamteinspielung anlegt. Und da documents offenbar ebendies haben wollte, griffen sie zur hinlänglich etablierten und ebenso hinlänglich hoch gelobten ehemaligen Deutsche Grammophon-Aufnahme aus dem Jahr 1957 (nicht 1959, wie auf dem Cover der documents-Box fälschlicherweise zu lesen ist). Diese Aufnahme gilt weithin als Referenzeinspielung, und dies durchaus mit Fug und Recht. Eine gute Wahl!
Die „Grande messes des morts“ ist einspielungsmäßig mein persönliches Highlight in dieser Box: Eine herrliche verschrobene Aufnahme des Orchesters der Nationaloper von Paris unter dem einzigartigen Dirigat Hermann Scherchens. Leider hat diese faszinierend individuell gestaltete Aufnahme technisch mit einigen Gleichlaufschwankungen zu kämpfen, aber das macht nichts angesichts dieses grandiosen Tondokuments. Wohlgemerkt: Das hier hat mit Berlioz in Referenzqualität wenig zu tun: Das ist Scherchen in Reinkultur – Individualität und Subjektivität pur! Ich persönlich finde das herrlich, gerade deswegen.

Die Ouvertüren erklingen auf einer eigenen CD in überwiegend guten bis sogar sehr guten Aufnahmen des Royal Philharmonic Orchestra unter Sir Alexander Gibson, bei denen es doch bemerkenswert ist, das diese Aufnahme aus dem Jahr 1995 schwammiger und undifferenzierter klingt, als das Gros der 1950er-Aufnahmen, die wir sonst in dieser Box vorfinden. Aber zum Klang an sich komme ich zum Schluss noch einmal.
„L’enfance du Christ“ haben wir zum guten Abschluss in einer erneut makellosen Aufnahme des Boston Symphony Orchestra unter Charles Münch. Wer da nicht hinschmilzt, ist selber schuld.

Fazit bis hierhin: Die Einspielungen gehen bis auf einen misslungenen Römischen Karneval und eine zumindest eigentümlich gewählte Symphonie Fantastique voll in Ordnung.

Aber!

Ja, aber der Klang! Ich persönlich habe keine Ahnung, warum die documents-Restauratoren derart alles Bandrauschen plattmachen müssen. Dabei gehen in den leisen Passagen sämtliche Höhen verloren, teilweise kommt es sogar zu quäkigen Mitten, kurz und gut: Etwas weniger Rauschunterdrückung, und die Box wäre auch an dieser Front durchaus empfehlenswert gewesen. Im Popmusikbereich bekommen wir von diesem Label ja ein ums andere Mal auch sehr schön restaurierte Boxen vorgesetzt, die oft deutlich besser klangrestauriert sind als ihre klassischen Pendants, bei denen die Rauschunterdrückung im Hause documents oft genug mit der Methode „Holzhammer“ stattzufinden scheint (man lese zu diesem Problem auch meine Rezension der Britten 100-Box von demselben Label).
So lange dieser Punkt das Manko der documents-Boxen bleibt, so lange kann man die an sich gut zusammengestellten und wohlausgewählten Compilations dieses Labels an sich nur eingeschränkt empfehlen. Wem dieser Punkt aber weniger wichtig ist, und auf HiFi-Sound eben nicht so viel Wert legt, bekommt hier einige sehr schöne, teils sogar unumwunden grandiose, Berlioz-Einspielungen zum zugegebenermaßen rekorverdächtigen Preis.

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