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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Wie Phönix aus der Asche

Die Kolumne: "Listening for the-listener": Christoph Schlüren - Folge VII

von Christoph Schlüren  •  22. Mai 2013

Diese Produktion, entstanden am 20. April 2012 in den Räumen von Faust Harrison Pianos in New York City, als eine große Überraschung zu beschreiben, wäre eine gelinde Untertreibung, und in einer Zeit, in der überall bedenkenlos mit Superlativen hantiert wird, die oftmals auf nichts weiter beruhen als einer gut inszenierten Werbekampagne oder vermeintlich sicherer Autorität, ist es für den Rezensenten gar nicht einfach, angemessen zum Ausdruck zu bringen, welch singuläre Bedeutung einer Aufnahme zukommt, auf deren Erscheinen in Europa nur eine verschwindende Minderheit der Klassikkenner gewartet hat.
Die 1950 geborene amerikanische Pianistin Beth Levin, die einst bei dem Gieseking-Schüler Marian Filar, Rudolf Serkin, Leonard Shure und Dorothy Taubman studiert hat, offenbart sich hier schlicht als eine Künstlerin von überragendem Format. In den USA ist sie natürlich viel bekannter als bei uns, ist als Solistin mit führenden Orchestern wie dem Philadelphia Orchestra oder beim Marlboro Festival und Casals Festival aufgetreten, und hat in den vergangenen Jahren überwältigende Kritiken für ihre Einspielungen von Bachs Goldberg-Variationen und Beethovens Diabelli-Variationen erhalten (u. a. in New York Times und Fanfare Magazine). Diese Aufnahmen, die ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht hören konnte, sind beim Label Centaur Records erschienen, das zwar in Deutschland vertrieben wird, doch hat der Vertrieb beide CDs nicht übernommen, da es sich um Standardwerke mit einer hier unbekannten Musikerin handelt.

So verständlich das ist, kann ich doch nur sagen, dass das äußerst bedauerlich ist. Auch vorliegende Beethoven-Aufnahme ist hierzulande nicht in den Geschäften zu bekommen, denn das Label Navona Records hat hier keinen Vertrieb, und so muss jeder Interessierte auf Online-Bestellmöglichkeiten zurückgreifen.

Dass Beth Levin sich mit ihren Aufnahmen bislang den anerkannten Gipfelwerken der Literatur widmet, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eine außerordentlich vielseitige und neugierige Künstlerin ist, die auch sehr viel zeitgenössische Musik spielt, u. a. von Mohammed Fairouz, Henryk Górecki, Scott Wheeler und Michael Rose, und insbesondere in enger persönlicher Zusammenarbeit Andrew Rudin und David Del Tredici. Beth Levins kultureller Horizont ist ungewöhnlich weit gesteckt, ihre detaillierten Kenntnisse erstrecken sich auf weite Gebiete der Musik- und Kunstgeschichte, der Literatur und Philosophie, sie ist nebenbei sozusagen – darin vielleicht einem Paul Zukofsky ähnlich – eine glänzende Repräsentantin der ehrwürdigen Ostküsten-Intelligentsia.

Beethovens drei letzte Sonaten, die der Komponist wie „in einem Atemzug“ niederschrieb (daher der einprägsam schöne Album-Titel), hat sie an einem Tag aufgenommen, und der Eindruck ist zweifellos der eines fantastischen Live-Konzerts. So makellos sie spielt, so nebensächlich fällt die Bedeutung dessen aus, dass sie die Werke, die auch für ganz große Pianisten eine immerwährende Herausforderung bleiben, technisch souverän beherrscht. Vielmehr stellen wir uns hier als Hörer einem Abenteuer, das uns vom ersten bis zu letzten Moment mit vollendetem Zauber und wilder Kraft fesselt und 66 Minuten lang in Bann hält. Die Beschreibung muss sich dem Paradox stellen, dass wir einerseits fortwährend mit Überraschungen konfrontiert sind, nie wissen können, wie es weitergeht – das Ganze wirkt wie eine stürmisch sich entfesselnde Improvisation, als geschähe das Ganze zum ersten Mal, und man könnte geradezu annehmen, der Komponist sei hier im Moment der Empfängnis selbst am Werke, so gewaltig, so erhebend, so niederschmetternd, so suggestiv die monumentalen Kontraste und großen Entwicklungslinien eröffnend ist die Darbietung. Und hier kommt – für das dialektische Denken das ‚Andererseits’ – ins Spiel, dass die Aufführungen eben zugleich von einer seltenen strukturellen Logik getragen sind, die doch nie auf Kosten der immensen Spontaneität des Ausdrucks geht. Die Musik fließt, ja drängt durch sie hindurch, und sie scheint nichts damit beweisen, demonstrieren zu wollen, sie ist eben nicht eine Interpretin, die im Moment der Entstehung reflektiert, sondern die intensive Reflektion und Erkenntnis ist der Ausführung vorangegangen und kann nun im freien Spiel der tonalen Kräfte ihren untrüglichen Niederschlag finden.
Beth Levin geht grundsätzlich äußerst risikofreudig zu Werke, sie steht quasi mit jeder Faser ihres Daseins für das ein, was da im Moment zum Erklingen kommt, und dass dies nicht in zentrifugal erregte Willkür zersplittert, ist gründlichster Vorbereitung, einer starken Selbstbeherrschung im Angesicht der künstlerischen Zerreißprobe und überhaupt der Gabe, nicht sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, zu danken. Hier kann man erfahren, dass eine große Persönlichkeit nicht dadurch wirkt, dass sie eine solche sein will, sondern dass sie sich rückhaltlos in den Dienst dessen stellt, was die künstlerische ‚Sache’ fordert. Sie reizt die dynamischen Werte fortwährend extrem aus wie kaum jemand sonst, und zugleich agiert sie aus einer selbstobjektivierenden Vogelperspektive. Das ist kein sicherer Weg. Manchmal überschreitet sie, bei aller Bewusstheit über die polyphone Struktur, die motivischen Verflechtungen, die harmonischen Verläufe, für einen Moment die Grenzen des Balancierbaren, und gleichwohl wirkt auch das natürlich, entspricht es doch Beethovens Grenzen sprengendem Naturell und zeigt auch, dass es sich um Musik handelt, die in ihrer Explosivität und Wucht über die klanglichen Potenziale des Flügels hinausdrängt (wie etwa die Große Fuge über diejenigen eines Streichquartetts oder die Missa solemnis über die Möglichkeiten wohlklingenden Chorgesangs).

Einer meiner ersten Gedanken war: Sie spielt eigentlich, als wäre sie einer der großen, legendären Vertreter der deutschen Tradition vor mehr als einem halben Jahrhundert, Seite an Seite mit Edwin Fischer, Eduard Erdmann, Artur Schnabel, Johannes Strauss, Wilhelm Backhaus, Walter Gieseking, Rudolf Serkin, Wilhelm Kempff, Conrad Hansen – und sie ist eine der entfesseltesten, machtvollsten Stimmen in diesem Chor, mit unwiderstehlicher Verve und tief berührender Innigkeit. Sie hat die Tiefe, Brillanz, Dringlichkeit und Poesie, die Beethoven so unbedingt braucht und mittlerweile so selten in dieser wesensmäßig bedrohten Verbindung von Einheitlichkeit und Mannigfaltigkeit zur Verfügung gestellt bekommt. Das Plötzliche, Abrupte, Abgründige, und das weit Ausschwingende, geschwisterlich Beseelte – so gespielt, ist diese Musik zugleich unablässig aufrüttelnd und von jenseitiger Größe, erfüllt mit Charakter, Plastizität, Integrität, Authentizität. Der Effekt geschieht nicht um des Effekts willen, die Gegensätze werden in ihrer Vielschichtigkeit ausgeleuchtet, und zugleich geht die Reise kontinuierlich und unerbittlich ihrem Ende zu, das bereits im Anfang enthalten ist.
Beth Levin macht ausgiebigsten Gebrauch von Rubato. Ich muss gestehen, dass ich dies bei anderen fast immer als Willkür, Manierismus, Diskontinuität, Effekthascherei, Originalitätssucht empfunden habe, doch nicht hier. In vielen Fällen würde ich zwar Musikern, mit denen ich arbeite, ein stärkeres Bestehen auf dem durchgehenden Momentum empfehlen, einen subtileren Gebrauch der Tempodehnungen und –raffungen, doch Beth Levin glaube ich jeden Ton. Alles ist hier beseelt, und sie versteht es auch, die Saiten unter den Hämmern nicht nur zum Beben, sondern auch wahrhaft zum Singen zu bringen – eindrücklichst gerade da, wo nur ganz wenige Töne viel Zeit beanspruchen. Hinzu kommen die kompakt informierenden englischen Liner Notes von Emily Howard und ein Klangbild, das in aller erzielbaren Natürlichkeit den klanglichen Extremen in allen Registern in erstaunlicher Weise Rechnung trägt und darüber hinaus mit ihrem ungeschönten Obertonreichtum eine Wärme vermittelt, die unmittelbar umfängt.
Ich empfehle allen Beethoven-Freunden dringend, Zeugen dieser machtvollen Darstellung zu werden. Beth Levin hat sich den späten Beethoven anverwandelt, lässt seinen Geist mit aller Gewalt der Physis, des Gefühls und der bewussten Meisterung des energetischen Zusammenhangs auferstehen wie Phönix aus der Asche, Unausgeglichheiten und Verwerfungen dieses unbändigen Revolutionärs inklusive. Die Erde bebt, der Titan ist mitten unter uns.

——- CD-Details:
Beth Levin – A Single Breath
Ludwig van Beethoven: The Last Three Piano Sonatas
Sonate Nr. 30 E-Dur op. 109, Sonate Nr. 31 As-Dur op. 110, Sonate Nr. 32 c-moll op. 111
Beth Levin (Steinway)
Navona Records NV 5908
Dauer: 66’00“
EAN: 896931001083

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