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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Zu Konzerten verwandelte Sonaten

Die Kolumne: "Listening for the-listener": Christoph Schlüren - Folge VI

von Christoph Schlüren  •  16. Mai 2013

Den Gedanken hatte ich auch schon des öfteren gehabt, wobei er für einen Norweger, der als Violinvirtuose um die Welt reist, natürlich viel dringlicher und präsenter sein musste: Warum hat Edvard Grieg, dieser wie Mendelssohn, Tschaikowsky und Dvorák so einmalig melodisch begabte Meister und eminent empfindsame Lyriker, kein Violinkonzert geschrieben? Beinahe wäre es dazu gekommen, hätte er nicht 1881 auf seinen dahingehenden Vorschlag an Max Abraham keine Antwort erhalten. Kraggerud erzählt also im Booklet, wie frustrierend es für ihn als Geiger war, mit keinem Violinkonzert aus seiner norwegischen Heimat regelmäßig brillieren zu können – nicht einmal, möchte ich mit einer Brise Traurigkeit anmerken, mit dem wunderschönen Konzert des großen Symphonikers Johan Svendsen. Und erwähnt in diesem Zusammenhang, dass sein Landsmann Leif Ove Andsnes zeitweise 70% seiner Einladungen zu internationalen Orchestern alleine mit dem Klavierkonzert Griegs bestritt – schon toll, da kann sich fast ersparen, überhaupt noch weiteres Repertoire zu lernen…
Als Kraggerud die künstlerische Leitung des Tromsø Chamber Orchestra übernahm, sah er die Stunde gekommen, in Zusammenarbeit mit dem versierten Orchestermitglied Bernt Simen Lund jene – gleich drei! – Violinkonzerte von Meister Grieg zu kreieren, die es bis dato nicht gab.

Die beiden steckten die Köpfe zusammen und begannen mit der Orchestration von Griegs drei herrlichen Sonaten für Violine und Klavier. Um es der Geige nicht unnötig schwer zu machen, wobei die kleine Streicherbesetzung eines Kammerorchesters natürlich bereits von großem Vorteil ist, nahmen sie nur die vier Standard-Holzbläser in einfacher Besetzung zum Streicherkörper hinzu: Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott. Und das Ergebnis ist tatsächlich eine große Freude, indem aus dem ursprünglichen Klaviersatz eine reiche und abwechslungsreiche Farb- und Ausdruckspalette bezogen wird, die sich zudem sehr pietätvoll an Griegs originaler Orchestrierungskunst orientiert.
Natürlich, ganz ideal und natürlich ist die Sache nicht. Die Sologeige spielt, anders als in den klassischen Violinkonzerten, fast die ganze Zeit, und es werden keine Tuttikontraste aufgebaut, die tatsächlich auf die Kraftentfaltung des Orchesters setzen, denn das Orchester ist ja hier nun mal nichts anders als ein aufgefächerter und in den Möglichkeit viel breiter ausschöpfender Klavierpartner. Es ist eben originär dialogische Musik eines Duos, und nicht die Gegenüberstellung des Einzelnen und der Vielen. Also vergeht auch stets kaum Zeit, bis der Solist einsetzt, und natürlich fehlt auch die übliche Solokadenz (aber die fehlt ja auch beim originalen Svendsen-Konzert – sicher mit ein Grund, warum dieses nie „das Rennen gemacht“ hat…). Es ist ein bisschen wie mit Felix Weingartners grandioser Orchestration von Beethovens Hammerklavier-Sonate: man merkt, dass sich die Musik nicht aus dieser Klangkombination heraus entwickelt, es bleibt sozusagen eine unsichtbare energetische Diskrepanz – für den kritischen Hörer. Dieser Einwände eingedenk, handelt es sich um ein sehr attraktives und wertvolles Unterfangen, ja, um eine echte Bereicherung der konzertanten Violinliteratur, und Henning Kraggerud spielt mit großer Emphase und Hingabe, und technisch makellos. Natürlich ist auf der Aufnahme vom Solisten auch an kritischen Stellen hinsichtlich der Balance stets alles zu hören, auch da, wo seine feineren Nuancen im Konzertsaal vom Orchester weitgehend zugedeckt würden – doch das ist nichts anderes als bei den bekannten großen Konzerten, und da gibt es viel kritischere Fälle.
Griegs erste Violinsonate entstand 1865 unmittelbar nach seiner herrlichen einzigen Klaviersonate e-moll op. 7 und ist wie diese ein Werk von jugendlicher Leidenschaft und Aufbruchsfreude. Die zwei Jahre später komponierte zweite Violinsonate kontrastiert hierzu mit einem viel ausgeprägteren volkstümlich norwegischen Tonfall. Die dritte Sonate schließlich ist ein machtvolles Reifewerk von 1886-87 – das letzte vollendete Werk Edvard Griegs in solch großer formaler Anlage – und von wilder Üppigkeit inniger Erzählkunst durchdrungen. Sie ist zweifellos das substanziellste der drei Werke und man darf schon einmal fragen, warum sie in der originalen Gestalt nicht öfter bei uns zu hören ist. Jetzt jedenfalls gibt es von allen drei Werken alternative Versionen, und jede Version ist es wert, immer wieder aufgeführt zu werden. Das Publikum wird diese Stücke ohnehin lieben, wenn es erst einmal mit ihnen vertraut gemacht ist.
Klanglich kraftvoll und präsent aufgenommen, handelt es sich hier um eine bemerkenswerte Bereicherung des konzertanten Violinrepertoires, für die Geiger von exquisitem Reiz, und wohl für jeden, der Griegs ungekünstelt frische Kunst liebt und Bearbeitungen nicht grundsätzlich abgeneigt ist, ein nachhaltiger Gewinn.
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Edvard Grieg / orchestr. Henning Kraggerud & Bernt Simen Lund
3 Konzerte für Violine und Kammerorchester nach den Sonaten für Violine und Klavier Nr. 1 F-Dur op. 8, Nr. 2 G-Dur op. 13 und Nr. 3 c-moll op. 45
Henning Kraggerud (Violine und Leitung), Tromsø Chamber Orchestra
Katalognummer: 8.573137 / EAN: 747313313778
Dauer: 66’40“

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