Go to content Go to navigation Go to search

The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Nebelfreier Blick auf's Meer!

Anima Eterna renoviert Debussys "La Mer" und bringt seine Schubert-Einspielungen in einer handlichen Box neu heraus

von Rainer Aschemeier  •  9. November 2012

Im letzten Jahr waren sie mit weitem Abstand unsere Sieger bei der Wahl der the-listener.de-CD des Jahres : Das „Originalklang“-Ensemble Anima Eterna aus dem belgischen Brügge und ihr langjähriger Leiter Jos van Immerseel.

Mit einer schlicht und ergreifend sensationell großartigen Poulenc-Retrospektive, die mich auch heute noch so begeistert, wie kaum eine andere CD der letzten zehn Jahre, konnte das Orchester wohl auch für sich selbst einen Meilenstein verbuchen. Bislang war man vor allem im Bereich der Klassik und frühen Romantik aufgetreten, nun zeigte Immerseel, dass es sich wohl lohnte, auch bei noch nicht einmal 100 Jahre altem Repertoire nach Instrumentarium aus der Entstehungszeit der Stücke zu forschen und diesen zudem Methoden der historischen Aufführungspraxis angedeihen zu lassen.

Nun führen Immerseel und sein Orchester diesen erfolgreichen Weg ebenso selbstbewusst wie überzeugend weiter und machten sich an eine mit über 77 Minuten randvoll gestopfte CD-Interpretation einiger Hauptwerke aus der Feder des als Impressionisten gebrandmarkten Claude Debussy.

ANIMA ETERNA BRUGGE INTERPRETIERT DEBUSSYS „LA MER“ UND LICHTET DEN KÜSTENNEBEL

Mit „La Mer“, „Prélude à l’après-midi d’un faune“ sowie „Images“ liegen hier drei der bekanntesten und am meisten nachgefragten Werke des Franzosen in neuen Darbietungen vor, die es wahrlich in sich haben.

Bereits bei dem „Prélude à l’après-midi d’un faune“ zeigen Immerseel und seine Musiker, wo die Latte von nun an angelegt werden muss: Hinfort ist jegliche Karajanistische Weichzeichnerei, ohne jedoch auf die zweifellos vorhandene Emotionalität der Musik zu verzichten.
Bei „La Mer“ lichten sich wahre Küstennebel. Der übliche Anima-Eterna-Effekt stellt sich ein, nämlich das Gefühl, man hätte das Stück jahrelang wie durch Milchglasscheiben wahrgenommen und erst jetzt könnte man es in seiner ganzen Klarheit und Lichtgestalt wahrnehmen.
Bei „Images“ fällt dieser Effekt etwas weniger großartig aus, wohl auch deshalb, weil dieses Stück schon seit längerem ein bevorzugter Tummelplatz andersdenkender Interpreten ist, die sich nicht mit dem immer Gleichen zufrieden geben wollen.

Hört man diese Interpretationen, drängt sich ein Vergleich förmlich auf, nämlich der mit der Gesamteinspielung der Debussy-Orchesterwerke durch Jun Märkl und dem Orchestre National de Lyon, das der heutige Chefdirigent des MDR-Sinfonieorchesters bis 2011 leitete (Rezension einer Teilausgabe dieses Zyklus siehe hier).
Allerdings wird dabei auch ein bedeutender Unterschied sichtbar. Zwar hatte auch Jun Märkl versucht, „seinen“ Debussy von der komprimierten Gefühlsduselei vergangener Jahrzehnte zu befreien – was ihm auch vollauf gelungen war -, nur war er dabei für mein Empfinden einen Schritt zu weit gegangen, indem er Debussys Musik den emotionalen Kern nahm und sie interpretierte, als sei sie Neue Musik. Dies führte zu gefühlskalten Darbietungen, die viel von der Farbigkeit und Sensation vermissen ließen, die ja erst der Grund dafür waren, dass die Musikgeschichtsschreibung Debussy als ersten musikalischen Impressionisten zu Protokoll nahm.
In diese Falle tappen Jos van Immerseel und Anima Eterna nicht. Bei Ihnen darf Debussy lebendig sein, quirlig sogar und hin und wieder – wenn es der Anlass erfordert – auch schwelgerisch und majestätisch.

Insgesamt ist der erste Höreindruck, wie so oft bei Anima Eterna-Einspielungen ungewohnt. Immer wieder steht die Frage im Raum: „Dürfen die das?“ Jeglicher Zweifel aber verfliegt, wenn man darüber nachdenkt, wie schlüssig und logisch das alles ist, was Anima Eterna und Immerseel hier veranstalten.
Ein hochklassiger, keine Wünsche offen lassender Aufnahmeklang eines meiner absoluten Lieblingstonmeister, nämlich Markus Heiland, lässt diese CD auch von der audiophilen Seite her zum Spektakel werden. Auf der Ebene hatte allerdings auch die erwähnte Naxos-Edition unter Jun Märkl annähernd gleichwertige Qualitäten in petto.
Lob verdient auch der wie immer ausführliche und grandios erzählte Booklet-Text, für den hier wieder Jos van Immerseel selbst verantwortlich zeichnete. Eine Spitzeneinspielung!

ANIMA ETERNA INTERPRETIERT SCHUBERTS SINFONIEN – EINE VERMEINTLICHE REFERENZEINSPIELUNG DER 1990er IN NEUEM LICHT

Gleichzeitig zu der soeben besprochenen Debussy-Einspielung, die man getrost als Messlatte für alles Kommende auf diesem Sektor ansetzen darf, wurde vom Label Zig Zag Territoires auch die Gesamtaufnahme der Schubert-Sinfonien (in ihrer Zählart sind es acht) von Anima Eterna wiederveröffentlicht, die zwischen 1996 und 1997 entstanden und seinerzeit leider etwas untergegangen war.

Hierbei muss man konstatieren, dass diese damals von vielen Magazinen zur ultimativen Schubert-Referenz ausgerufene Edition aus heutiger Sicht nicht nur mit einigen Affektiertheiten aufwartet, sondern auch mit einem Brügger Orchester, das vor 15 Jahren instrumental noch nicht auf dem Gipfel seiner Möglichkeiten musizierte.
Das merkt man insbesondere bei den Holzbläsern, so etwa im langsamen Satz der „Tragischen“ Vierten, aber auch bei der gesamten Ensembleleistung, zum Beispiel bei der „Großen“ C-Dur-Sinfonie.
Mit der zurzeit im Entstehen begriffenen Gesamteinspielung der Schubert-Sinfonien durch das Tonhalle Orchester Zürich unter der Leitung David Zinmans (Rezension zu einer der letzten Veröffentlichungen aus jenem Zyklus siehe hier ist aus meiner persönlichen Sicht eine etwaige Referenz heutzutage in Zürich zu suchen und nicht in Brügge.

Für mich war die Gesamtaufnahme von Anima Eterna im Übrigen auch nie Referenz, denn dafür war sie instrumental nicht gut genug und ihre Andersartigkeiten und – ja – Schrulligkeiten, erscheinen häufig effekthascherisch – eine Unart, die sich das Ensemble unter Immerseels Regie erfreulicherweise heute fast zur Gänze abtrainiert hat. Dafür ist die instrumentale Qualität des Orchesters reich gediehen und hat heute fraglos Weltklasseniveau.
In diesem Sinne würde man sich am liebsten wünschen, diese Schubert-Aufnahmen würden heute noch einmal realisiert – vom gleichen Team wie damals, aber mit deren aktuellen Tugenden.

Immerhin: Klanglich ist diese Aufnahme auch 15 Jahre nach ihrer Entstehung noch eine Klasse für sich, bei der selbst die ebenfalls vorzüglich klingende neue Zinman/Tonhalle-Einspielung den Kürzeren zieht.

——————————-
Details zu den vorgestellten CDs:

Claude Debussy: „La Mer“, „Prélude à l’après-midi d’un faune“, „Images“
Anima Eterna Brugge – Jos van Immerseel
Katalog-Nr.: ZZT313
EAN: 3760009293137
Label: Zig Zag Territoires
Vertrieb: note 1

Franz Schubert – Die Sinfonien (4 CDs)
Anima Eterna Brugge – Jos van Immerseel
Katalog-Nr.: ZZT308
EAN: 3760009293083
Label: Zig Zag Territoires
Vertrieb: note 1

Stöbern

Verwandtes / Ähnliches:

Archiv

Alle Artikel können im Archiv nachgeschlagen werden. Dort ist auch eine gezielte Suche möglich.