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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Transvestiten zwischen John Dowland und Frida Kahlo sowie Beethoven auf Speed

von Rainer Aschemeier  •  12. Juli 2012

Achtung, jetzt wird es schräg!

Während es Medienverantwortliche geben mag, die glauben, klassische Musik präsentiere man „zeitgemäß“ am besten anhand von Zeitschriften und Blogs, die aussehen, als seien sie eine Mischung aus „Manufactum“-Katalog und „Landlust“, schauen wir im Rahmen dieses Artikels in die bislang gewagtesten Abgründe eines Genres, das allgemein für konservativ und altmodisch gehalten wird.

Wir sehen eine Transvestitengruppe aus Irland, die mit ihrer internationalen Besetzung das Wort „Alte Musik“ neu definiert und darunter nicht nur Klänge aus dem 16. und 17. Jahrhundert versteht, sondern auch mal eine gepflegte Hank Williams-Ballade.

Wir schauen auch auf die ungewöhnliche Karriere eines vorgeblich pillenschluckenden, dauerquasselnden Klavierkobolds namens James („Jimmy“) Rhodes, der sein Publikum nicht nur mit klassischer Klaviermusik unterhält, sondern auch mit dem gezielten Einsatz des allseits bekannten „F“-Worts.

DIE CD FÜR DEN ELEGANTEN PURISTENMORD (...per Schock!)

„The Dublin Drag Orchestra“ (übersetzt also in etwa „Das Dubliner Transvestiten-Orchester“) ist so ziemlich die ungewöhnlichste Alte Musik-Formation, die man sich vorstellen kann. In aufwendigster Kostümierung, übertrieben bis zum Geht-nicht-mehr, mit deutlichem Hang zu ironischer Selbstinszenierung befürchtet man zunächst das Schlimmste:

Ääääähhhh, ja... Das Dublin Drag Orchestra gibt Rätsel auf. Bildquelle: Heresy records.

Ist das etwa eine dieser „Switched On Bach“-Epigonen-Truppen, die Barockmusik qua Glittergewand ins 21. Jahrhundert zu tragen gedenken? Weit gefehlt!

Das Dublin Drag Orchestra muss man gehört haben, um es zu verstehen. Es ist jedenfalls nicht so leicht, dieses Ensemble irgendwie „verorten“ zu wollen. Die Musikerinnen und Musiker entziehen sich wie auch immer gearteten „Einordnungsversuchen“ ebenso gekonnt wie konsequent.
Ist das Dublin Drag Orchestra eine bloße Chaos-Truppe? Keinesfalls, denn sie verstehen ihr Handwerk, sind ganz hervorragende Musiker, und viele ihrer Interpretationen von englischen und mexikanischen Renaissance- und Barockmusikwerken stehen „konventionellen“ Darbietungen in nichts nach, sind teilweise sogar überlegen.
Andererseits macht sich das Dublin Drag Orchestra auch über so manches lustig, zum Beispiel wenn in Henry Laws „Fear Not, Dear Love“ so übertrieben geschluchzt wird, dass einem in der Tat die Tränen kommen – allerdings Tränen des Lachens, nicht des Weinens.

Auch der aus meiner Sicht herausragende Coup, das vorzügliche Stück „Cold, Cold Heart“ des Countrybarden Hank Williams (1923-1953) auf eine der beiden CDs dieses Doppelpacks zu schmuggeln, sorgt nicht nur für wohliges Schmunzeln, sondern vermag ob seiner musikalisch schlicht großartigen Ausführung tiefste Anerkennung zu erheischen.


Etwas ganz Ähnliches versuchen die Transvestiten aus Dublin auch auf der zweiten CD, wo sie ein Stück der mexikanischen Künstlerinnen-Ikone Frida Kahlo Werken mexikanischer Barockmusik aus dem 17. Jahrhundert gegenüberstellen. Nur funktioniert das nicht ganz so gut, wie bei der zuvor genannten Hank Williams-Attacke.
Kurz und gut: Was will das Dublin Drag Orchestra? Ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung! Die Musik ist prima, eben einfach Alte Musik unverkrampft, die Ausführung ist grandios. Alles andere ist schräg und ansonsten reichlich rätselhaft.
Nicht alles an diesem Debüt-Album ist geschmackssicher, vieles ist musikalisch aufsehenerregend, das Meiste ist jedenfalls sehr unterhaltsam.

Wer einen verknöcherten „Alte-Musik“-Anhänger unter seiner Bekanntschaft weiß, der CDs als Ton gewordene Forschungsergebnisse der zeitgenössischen Musikwissenschaft betrachtet, hat mit dem Album des „Dublin Drag Orchestra“ eine veritable Mordwaffe für ebensolche Leute in der Hand.

„JIMMY“, DER ZAHME BÜRGERSCHRECK

„F*ck*n‘ Great!“

...findet James (aka „Jimmy“) Rhodes der Reihe nach: Beethoven, Brighton, Bärte, Aufputschmittel…
Und über alles redet er gern und viel. Logisch, dass so ein Mann mit Studioproduktionen auf Dauer nicht glücklich wird. So einer muss raus auf die Bühne, so einer hat eine Mission!

Motto: Beethoven war ein Rockstar (Yeah!), und man muss ihn auch so interpretieren!
Ja, Rhodes nutzt das Wort „interpretieren“, denn er hat ja eine Aufgabe: „Junge Leute“ will er zur klassischen Musik führen, die er viel zu oft als „whimsy“ und „weakish“ abklassifiziert sieht.
Er, der sich selbst als so etwas wie der Noel Gallagher der Klassikszene inszeniert, treibt den Bürgerschreck-Impetus, den einst Nigel Kennedy mit seiner vom Bildungsbürger als „Punkfrisur“ identifizierten Haarpracht installierte („echte“ Punks sind seinerzeit wahrscheinlich vor Lachen tot umgefallen), in neue Dimensionen.

Immerhin: Er scheint das Klischee, das er vermittelt, tatsächlich zu leben.


Und er traut sich was: Rhodes hat nie eine klassische Klaviermusikausbildung genossen. Als Klavierautodidakt nimmt er deshalb für sich in Anspruch, dass er einen anderen Interpretationsansatz vertritt als Pianisten, die die ganze solistische Ochsentour durchlitten haben – von „Jugend musiziert“ bis (idealerweise) zum Tschaikowsky-Wettbwerb.

Rhodes identifiziert Beethoven als Rebell… und… Moment, so ein Zufall… er selbst ist ja auch einer! Und auch anderswo gibt es Rebellisches zu entdecken, zum Beispiel im Werk von Moritz Moszkowski, der laut Rhodes Meinung ungefähr genau so coole Sachen gemacht hat, wie Rachmaninoff oder Chopin.

Unter den acht auf seinem neuen Live-Doppelalbum „Live in Brighton“ mitgeschnittenen Stücken, sind die Hälfte Transkriptionen. Auf diese Weise bekommt Rhodes es hin, sein Publikum mit „In der Halle des Bergkönigs“ von Edvard Grieg vorhersehbar krawallig nach Hause schicken zu können.

Vielleicht muss man diese CD aber auch eher vonseiten des (umfangreichen!) Anteils an Wortbeiträgen her deuten: Rhodes hört sich selbst gern reden, und das macht er dann auch vor jedem Stück. Er erzählt über seine Auffassung über das Werk der vorgestellten Komponisten ebenso, wie über seine Ansichten zu Alkohol und Amphetaminen, er quasselt viel darüber, dass der Klassikszene heutzutage die „Seele“ fehlt… und vieles davon – muss man ja mal sagen – stimmt auch.
Rhodes vertritt einen nur zu berechtigten, kulturkritischen Ansatz. Sein Problem liegt woanders: Erstens vermischt er seine Kunstkritik mit einer ziemlich verzichtbaren Selbstinszenierung. Zweitens (und dies ist schlimmer!): Rhodes ist einfach kein besonders guter Pianist. Sicher besitzt er die handwerklichen Möglichkeiten, um Beethovens Waldstein-Sonate furios in die Halle zu hämmern, aber sein fataler Mangel an dynamischer Differenzierung, seine in jeder Hinsicht unausgegorene Phrasierung lassen ihn im Endeffekt eher als das erscheinen, was er ja nun einmal auch ist: ein engagierter Amateur-Pianist, und in diesem Zusammenhang sogar ein sehr guter – aber eben auch nicht mehr!

Fazit: James Rhodes scheitert vor allem an seiner Selbstverliebtheit, nicht zuletzt aber auch an seiner mangelnden pianistischen Klasse. Sollte es Leute geben, die Rhodes mit seiner „Brit-Pop goes Classic“-Tour tatsächlich zur hehren Kunst bewegen kann, hat er meinen Segen.
Ich persönlich finde „Live in Brighton“ aber nicht sehr überzeugend und Rhodes selbst in seiner gewollten Klischeehaftigkeit zuweilen unfreiwillig komisch.

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Details zu den vorgestellten CDs:

The Dublin Drag Orchestra
Motion of the Heart / ¡VIVA FRIDA! (Doppel-CD)
Heresy / Naxos
Katalog-Nr.: Heresy 003 / EAN: 5060268640139>

James Rhodes
„Jimmy“ – Live in Brighton
Signum Classics / note 1
Katalog-Nr.: SIGCD 308 / EAN: 635212030820

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