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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Die Boccherini-Edition von Brilliant Classics

Ein großzügiger Einblick auf 37 großartigen CDs - jedoch nicht ohne schmerzhafte Repertoire-Lücken!

von Rainer Aschemeier  •  5. September 2012


Klassik-CD-Boxen sind so beliebt wie selten zuvor – und stellen damit ein weit verbreitetes Vorurteil infrage: Sind wir wirklich ein Volk von Raubkopierern und Downloadern? Ist das physische Produkt, die Compact Disc, wirklich zum Aussterben verurteilt?

Neben dem neuerlichen Siegeszug der Vinylschallplatte stellte diese gängige These wohl kein Trend mehr auf die Probe, als das inflationäre Auftreten von üppigen Kollektionen und Gesamtwerk-Ausgaben seit Beginn des neuen Jahrtausends.
Während die „Großen“, Mozart, Haydn, Beethoven und co., inzwischen hinlänglich „abgegrast“ sind, widmen sich die Labels nun auch Werkeditionen von etwas weniger prominenten Komponisten. Dass nun Brilliant Classics aber eine 37 CDs umfassende, prallvolle Boccherini-Edition vorlegt, kann und muss man schon als besonderen Coup bezeichnen – und als Glücksfall für alle Klassik-Hörer, die auf mehr aus sind, als die dreihundertste Mozart-Box.

Sehr berechtigtermaßen wird das Werk des gebürtigen Luccaners, der eigentlich einen Job in London antreten wollte und schließlich ab 1768 am Hof von Madrid seine kreative Idealumgebung fand, immer beliebter. Wohl kein anderes Label hat in den letzten zehn Jahren mehr für die Verbreitung und Ehrenrettung des gelegentlich belächelten Boccherini getan, als das Low Budget-Label Brilliant Classics.

Dass dabei einige ganz herausragende Werkeditionen entstanden sind, ist nicht erst seit gestern bekannt. So hat etwa die mit sagenhaften 16 CDs bislang vollständigste Ausgabe der Streichquintette Boccherinis mit dem Kammerensemble „La Magnifica Comunità“ großes Aufsehen in der internationalen Presse erregt. So großes, dass „La Magnifica Comunità“ von dem beliebten Label für den kleinen Geldbeutel zum großen Geld wechselten und nunmehr für Sony Classics die Bogen auf die Saiten setzen (mehr Informationen dazu gibt’s hier).

Weitere vier CDs stellen die Klavierquintette Boccherinis in den Mittelpunkt, zwei CDs umfassen die ungemein reizvollen Gitarrenquintette, je eine von „capriccio“ lizenzierte CD widmet sich den Oboenquintetten und den Streichsextetten, drei CDs stellen die inzwischen sehr beliebten Cellokonzerte Boccherinis vor, leider nur zwei (wieder von „capriccio“ lizenzierte) CDs beinhalten die wichtigsten Sinfonien, eine weitere „capriccio“-Lizenz bildet die CD mit Streichquartetten in dieser Box, zwei von „tactus“ lizenzierte CDs versorgen uns mit einem Einblick in die Violinsonaten, vier CDs umfassen die Cellosonaten, und abschließend gibt’s das gloriose „Stabat Mater“ in einer aufsehenerregenden Produktion des italienischen „tactus“-Labels.

Sieht man einmal davon ab, dass die ganze Box den Charme eines „wir-veröffentlichen-einfach-alles-was-wir-kriegen-können-und-was-wir-nicht-kriegen-können-lassen-wir-halt-weg“-Ansatzes vermittelt, ist diese Brilliant-Classics-Novität eine sehr empfehlenswerte Edition. Zum Preis von gerade einmal knapp 50 Euro gibt es hier rund 45 Stunden Musik von einem der wichtigsten und vor allem eigenständigsten Vertreter der Periode, die anderswo gemeinhin als „Wiener Klassik“ tituliert wird.
Und gerade das ist es ja, was Boccherinis Werk gleichermaßen sympathisch und musikhistorisch bedeutend erscheinen lässt: Während sich zu Boccherinis Zeiten praktisch alle anderen Komponisten Europas stilistisch an der Musikmetropole Wien orientierten, tüftelte Boccherini – der den Wiener Stil sehr wohl kannte und selbst am eigenen Leibe erlebt hatte – im weit entfernten Madrid an seiner ureigenen Musikvision. Diese, so könnte man vereinfachend sagen, bestand aus dem Besten des Barockzeitalters, vermischt mit dem Unwiderstehlichsten des neuen, „galanten“ Stils, vermischt mit einer guten Dosis Madrider Volkstümlichkeit.

Es ist wohl vor allem diese ungewöhnliche Stilmixtur, welche die Rezeption von Boccherinis Werk lange Zeit behindert hat, heute aber eher fördert. Während man noch vor wenigen Jahren das weithin gebrauchte Schmähwort von „Haydns Ehefrau“ auf Boccherini anwendete und ihm seinen (übrigens nicht unbedeutenden) Anteil an der Entwicklung der Sinfonie-Gattung praktisch zur Gänze abschrieb, ist der eigensinnige Schöngeist aus Madrid heute zum Bestseller auf dem CD-Markt avanciert.
Eine Suche nach „Boccherini“ bei Deutschlands wohl best sortiertem CD-Fachversand (jpc.de) ergibt nicht weniger als 170 Treffer. Das ist doch was!

Doch zurück zu der vorliegenden Box: Gibt es Stärken, gibt es Schwächen?
Erfreulicherweise kann man konstatieren, dass die 37-CD-Edition fast durchwegs gutes Material bietet. Einbußen müssen am ehesten beim Klang in Kauf genommen werden, denn die Aufnahmen dieser Box entstammen unterschiedlichen Quellen, die zum Teil eben auch schon etwas älter sind. Interpretatorisch profitiert die Edition davon, dass hier überwiegend ausgewiesene Boccherini-Spezialisten am Werk waren – Ensembles, die weite Teile ihres Wirkens teilweise fast ausschließlich dem Werk des Luccaners gewidmet haben. Und so sind zum Beispiel die Einspielungen der Streichquintette der Magnifica Comunità sowie der Cellokonzerte durch die Accademia i Filarmonici di Verona mit Enrico Bronzi besonders erstklassig und von hohem Rang für jede ernstzunehmende Klassik-CD-Sammlung. Am wenigsten gefallen mir persönlich die Aufnahmen der Klavierquintette durch das Ensemble Claviere, die zumindest stellenweise nicht nur arg bemüht klingen, sondern zudem auch klangtechnisch sehr dünn durch die Boxen kommen.

Das sicherlich größte Manko an der vorliegenden Zusammenstellung ist jedoch das Fehlen von weiten Teilen des Bocherinischen Sinfonieschaffens (er schrieb mindestens 27 Sinfonien, von denen hier gerade einmal sieben erklingen). Dabei würde sich die Beschäftigung mit diesem Element im äußerst umfangreichen Gesamtwerk des Luccaners besonders lohnen. Das ist im Rahmen einer Edition, die sich auch nur ein Mindestmaß an Repräsentativität auf die Fahnen geschrieben hat, eigentlich kaum verzeihlich. Gleichwohl gibt es die Sinfonien anderswo zu Genüge. Im Rahmen dieser Edition schwelge man also beruhigt im Schönklang der anderen Werkgattungen dieses hochinteressanten Komponisten, dem man wahrhaftig das größtmögliche Publikum wünscht.
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Boccherini Edition
37 CDs
Brilliant Classics 2012
Katalog-Nr.: 94386
EAN: 5028421943862

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