ARCHIV-AUSGABE OKTOBER 2003

 

 
Die „Tonträgerindustrie“ und der Räuber

EIN HORRORMÄRCHEN FÜR ERWACHSENE

VON RAINER ASCHEMEIER

Immer mehr Berichte in Zeitschriften und Online-Medien warnen vor dem angeblich kurz bevor stehenden Tod der Plattenindustrie. Zahlen immer drastischer steigender CD-Rom-Kopien werden veröffentlicht mit dem erhobenen Zeigefinger der Moral. Fast möchte man meinen, man befände sich in der Gesellschaft eines jungen Charlton Heston, unvergessen seine Rolle als „Moses“ in „Die zehn Gebote“. Durch das Firmament hallend das elfte Gebot diktiert vom Gott des Tonträgers: „Du sollst nicht raubkopieren!“.

Dabei ist sie erst die Spitze des Eisbergs, die, im doppeldeutigen Sinne, gemeine CD-Rom-Kopie der landläufig erwerbbaren Audio-CD. Auch dem Lieblingskind der Multimediaindustrie, dem schnellwachsenden Wunder-Wonneproppen mit dem lieblosen Namen „DVD“, geht es „an den Kragen“. Hier erfolgt der Angriff gleich auf mehreren Ebenen, VCD, SVCD, Div X... vorauseilende Spähtrupps sollen gar von einigen wenigen Eingeborenen berichten, die DVD – Brenner anbeten. Der Schrecken greift um sich...

Erfolgt nun der Exitus der Medienindustrie? Stehen Sony, Warner Bros. Und Konsorten schon kurz vor dem Aus? Möchte man allem glauben, was aus dem Lager der deutschen Tonträgerindustrie tönt, dann sieht es schlecht aus...

Was gesagt wird...

Die Bertelsmann AG, im Musikgeschäft mit dem kraftstrotzenden BMG – Label in vielen deutschen CD-Playern vertreten, ließ der Presse verlauten, es werde in Zukunft verstärkt auf Kopierschutz von Audio – CD’s gesetzt. Allein im Jahr 2001 überstiegen die Abverkaufszahlen der CD-Rohlinge erstmals die der verkauften Original-CDs. Insgesamt seien im letzten Jahr in Deutschland 182 Millionen Rohlinge mit Musik bespielt worden. Mit dieser besorgniserregenden Entwicklung drohe den Künstlern der Verlust ihrer Existenzgrundlage.

Jugendlich modern, aber mit der gleichen dramatischen Botschaft äußert sich auf seiner Internetseite der „Bundesverband der phonographischen Wirtschaft e.V.“:

„Außergewöhnliche Ereignisse erfordern unkonventionelle Slogans: COPY KILLS MUSIC ist falsches Englisch mit richtiger Botschaft: knackig, eingängig und irgendwie international. Die Gemeinschaftsinitiative von Künstlern, Textdichtern, Komponisten und Tonträgerherstellern, die im Sommer letzten Jahres auf der PopKomm in Köln lanciert wurde, hatte sich zum Ziel gesetzt, das Bewusstsein der Verbraucher, Musikliebhaber, Politiker und Meinungsbildner dafür zu wecken, dass massenhaftes privates Klonen von CDs die Refinanzierungsbasis der Tonträgerwirtschaft gefährdet. Deutschland hat es empfindlich und als eines der ersten Länder hart getroffen. Von 127,7 Mio. abgesetzten CD-Rs/CD-RWs in 1999 wurde hier auf mehr als 50% der unbespielten Rohlinge Musik kopiert. Damit kam auf jede dritte verkaufte CD eine selbstgebrannte. Die Prognosen sind dramatisch.“

Die bösen Deutschen: Ein Volk von Musikdieben? Jede gebrannte CD ein Verbrechen an der Musikkultur, quasi ein Brötchen weniger auf dem Frühstückstisch des von uns doch so geliebten Musikstars?

Was verschwiegen wird ...

Mitnichten möchte man meinen, wenn man sich einige Fakten heranzieht, die, wohl aufgrund ihrer Gegenläufigkeit zu den momentanen Interessen der Musikindustrie, in der Öffentlichkeit weit weniger bekannt sind als die oben Erwähnten.

So ist zunächst einmal beileibe nicht jede gebrannte CD eine sog. „schwarz“ gebrannte CD oder eine Raubkopie. Rein rechtlich ist es jedermann erlaubt von seinen teuer erworbenen Tonträgern sog. „Sicherheitskopien“ herzustellen.

Jede gebrannte CD ein Verbrechen an der Menschheit?
Oder: Das Märchen vom Räuber Fritz...

Das heißt also, wenn sich Fritz Müller die neue Wolfgang Petry – CD kauft um im Sommer vor der Eisdiele in seinem tiefer gelegten Opel Corsa mal so richtig „die Puppen tanzen zu lassen“, dann wird er sich vielleicht vorher eine Sicherheitskopie angefertigt haben. Denn: Stöckelschuhe machen nämlich Kratzer auf der Reflexionsschicht einer CD, und das ist nicht gut (weiß sogar Fritz Müller...). Darf er das? Er darf!

Ziemlich cool ist es auch wenn Fritz von Zeit zu Zeit die CD mal seinem Kumpel Beppo leihen kann, der „zieht sich dann ’ne Kopie“, denn Wolle Petry findet auch er „unheimlich klasse“. Legal oder illegal? (Sie haben fünf Sekunden Zeit... tick, tack... tick, tack...)
Klare Sache: Legal! Auch wenn Fritz seiner „Perle“ Susi die neue CD vom Petry Wolle zum Geburtstag „brutzelt“ hat er damit nicht gegen das Gesetz verstoßen.

Wie kommt also die Plattenindustrie zu der Behauptung, dass 182 Millionen gebrannte Musik-CD’s die Refinanzierung der Musikindustrie schädigen? Naja, irgendwie hat man es ja geahnt: Fritz ist doch ein schlimmer Finger...

Wann wird’s gefährlich?

Fritz ist nicht von gestern und auch insgesamt ein heller Bube. Mit Computern kennt er sich aus und dank DSL „zieht“ er sich schon mal die neue CD vom Bernhard Brink ratz fatz einfach aus’m Internet. Denn den findet der Fritz auch prima. Wolle Petry „is’ aber irgendwie besser“ und überhaupt... Damit er nicht ständig von dem User an der anderen Seite seines Peer To Peer – Dienstes rausgekickt wird, hat er auf seiner Festplatte auch „total gute Scheiben“ von Modern Talking, DJ Ötzi und anderen Superstars der Popkultur angehäuft. Da hat er dann bemerkt, dass sich hin und wieder mal jemand bei ihm bedient und sich diese Alben im mp3 – Format „runtersaugt“. Legal oder illegal? Tick… Tack…
Klarer Fall: Illegal! Sobald wildfremde Menschen kostenlos von der rechtmäßig erworbenen CD Kopien ziehen, verstößt dies gegen das Gesetz. Das heißt also: Die gekaufte CD darf nicht über Peer To Peer – Anbieter (z.B. „Kazaa“, „Audiogalaxy“, „Napster“) der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden. Auch darf man sich auf diesem Wege streng genommen keine Musik besorgen. Ist ja logisch... Fritz darf seine CD’s übrigens auch nicht gegen ein Entgeld an Andere verleihen oder Kopien von der Original-CD verkaufen.

Fiese Tricks auf beiden Seiten!
Oder: Doch alles nur Märchen?

Verbucht man diese Vorgehensweise unseres imaginären Musikfreunds Fritz unter der Abteilung „fiese Tricks“, dann muss man der deutschen Tonträgerindustrie – die im Endeffekt genau diesen schwarzen Peter immer wieder aus dem Ärmel schüttelt – wohl mal einen Spiegel vorhalten. Keine Frage, CD’s aus dem Internet, kostenlos und illegal... Das sind ja gleich drei Sachen auf einmal! Das geht nun wirklich nicht!

Andererseits würde mich die Stellungnahme der Musikindustrie zu folgenden Fakten (man möge die geneigte Aufmerksamkeit auf das Wort FAKTEN richten!) interessieren:

  1. Auf jedes gekaufte Gerät zur digitalen Musikvervielfältigung, also z.B. interne und externe CD-Brenner für PC’s, externe Hifi-CD-Recorder, MD-Recorder etc. wird bereits seit Anfang dieses Jahres ein Obolus von 7,50€ von der Tonträgerwirtschaft erhoben. Man könnte das fast mit einer „Raubkopie-Steuer“ vergleichen. (Hallo liebe Juristen, nicht aufregen, ich habe „fast“ geschrieben... J ). Das heißt also, wenn sich Fritz einen CD-Brenner kauft, dann geht ein Teil der Kaufsumme an die deutsche Tonträgerindustrie, die allein schon daran verdient, dass sich Fritz theoretisch (!) mit dem Brenner illegale Musik-CD’s anfertigen könnte. Ob er das tatsächlich macht, sei dahin gestellt. Die Musikindustrie kassiert trotzdem bei jedem verkauften Gerät, also auch bei den Geräten die in Computern von Kliniken, Universitäten, etc. zum Einsatz kommen. Manch Eines von Diesen soll sein Schicksal darin fristen, Zeit seines Lebens niemals eine Musik-CD von unten zu sehen...
    In dieser Hinsicht hört man immer wieder gern von Plattenfirmen: „Da kommt bei uns kein nennenswerter Betrag an!“ (s. z.B. Interview mit Antje Lange von „Sanctuary Records“ im Rock Hard 12/2002). Ich frage mich in diesem Zusammenhang: Wo bleibt’s denn? Und ansonsten stelle ich mir die Frage: „Was ist ein nennenswerter Betrag?“
     
  2. Nicht jede gebrannte CD ist eine Raubkopie (s.o.). Woher nimmt die Tonträgerindustrie also das Recht zu behaupten, dass 182 Mio. gebrannte CD’s überwiegend oder zu großen Teilen Raubkopien sind? Theoretisch könnten das doch alles (oder überwiegend) Sicherheitskopien oder Eigenproduktionen sein... Okay, ich bin nicht blöd, aber theoretisch ist es möglich. So oder so: Die Tonträgerindustrie wirft mit Zahlen um sich, die man nicht in jeder Hinsicht als „wasserdicht“ bezeichnen kann. Übrigens wird auch höchst selten die Quelle der statistischen Daten verraten, geschweige denn die Methodik der statistischen Erhebung, so dass man nicht nachvollziehen kann, wie denn überhaupt diese Ergebnisse gewonnen werden konnten.
     
  3. Wer verdient eigentlich an der CD am Meisten? Die Plattenfirma? Der Einzelhändler? Oder doch der Künstler? (Motto: Jede gebrannte CD entzieht Herrn Petry seine Frühstücksbrötchen...)
    Falsch geraten! Den überwiegenden Teil des Erlöses kassiert der Vertrieb (etwa 7,50€ bei einer Vollpreis - CD!). Wer hätte das gedacht! Den Reibach machen also die Jungs, die den Stoff aus dem die Träume sind (in diesem Falle Musik-CD’s) unter’s Volk bringen. Diese Politik ist nicht erst seit gestern kritikwürdig und vollkommen unverständlich! Vermutlich ist die Tonträgerindustrie auch einer der wenigen (wenn nicht der einzige...) Wirtschaftszweige wo die Lage so aussieht. Und Übrigens: Die Herstellungskosten für eine CD liegen ab einer Auflage von etwa 1000 Stück (...die heute nahezu jede CD im Handel mit Leichtigkeit erreicht...) im absoluten Höchstfall bei etwa 1€! Und der Musiker selbst verdient an seiner Produktion pro verkauftem Exemplar ungefähr 50 Cent. Hält man sich das vor Augen ist es schon komisch wenn da vom Existenzverlust der Musiker gesprochen wird. Wenn schon, dann geht es wohl in erster Linie um Plattenfirmen und Vertriebe!
     
  4. Unnötige Kosten, sprich: Verschwendung, der Plattenfirmen sind nach wie vor eine Tabuzone. Pro Monat erscheinen mittlerweile allein im Rock- und Metalsektor über 70 Neuerscheinungen. Insgesamt kommt man in guten Monaten auf bis zu 2500 Neuerscheinungen (inkl. DVD’s). Hinter jeder neuer CD steckt eine Unmenge an Geldaufwand: Vorschuss für die Studiokosten, Werbung & Promotion (inkl. hunderter von gratis Promo-CD’s für Presse, TV und Radio).
    Hier wird nach Herzenslust quasi „hergeschenkt“. Anstatt die Promos sinnvoll zu verteilen und Profile der einzelnen Medienpartner anzufertigen, so dass sich der Aufwand auch lohnt, werden die Medienvertreter mit grundsätzlich ALLEM bombardiert was das Label veröffentlicht. Motto: Er fand die ersten zehn Bon Jovi – CD’s scheiße? Naja, vielleicht findet er ja die elfte gut!
    Das dies kein Schwachsinn ist, konnte ich als langjähriger Radio-Insider am eigenen Leibe miterleben. Ich habe mir anfangs sogar die Mühe gemacht die Promotionagenturen darüber zu informieren, welche CD’s von welchen Künstlern in der Sendung nicht eingesetzt werden. Der Ruf verhallte ungehört und ich wurde auch weiterhin mit den CD’s der ungeliebten Musiker... Verzeihung: Zugeschissen! Heute hängen sie als Dekoration im Studio an der Wand. Die Kosten für diese Promos hätte man sich sparen können.
Fiese Tricks? Darin sind beide Seiten gut...

Ich freue mich über Ihre Rückmeldungen.

 
Autor und Recherche: Rainer Aschemeier
e-mail: e5150@web.de

 

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