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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

21st century portraits
Ensemble XX. Jahrhundert

(2012)
Capriccio

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21st century portraits - Ensemble XX. Jahrhundert

Mehr oder weniger zukunftsweisende Klänge aus dem 21. Jahrhundert

von Rainer Aschemeier  •  5. Mai 2012
Katalog-Nr.: 5129 / EAN: 845221051291

Wer www.the-listener.de regelmäßig liest, weiß, dass unsere website neben vielem Anderen vor allem ein Augenmerk auf die Musik der klassischen Moderne sowie der sogenannten Neuen Musik hat.
Leider ist von der „E-Musik“ des bisherigen 21. Jahrhunderts derzeit immer noch sehr wenig in Einspielungen erhältlich. Eine vorbildliche CD des Ensembles XX. Jahrhundert tritt nun an, um dies zu ändern.

Eins vorweg: Sollte sich diese CD nicht gut verkaufen, kann man kaum dem hier enthaltenen Programm oder den ausführenden Musikern einen Vorwurf machen. Eher schon dem Label, denn diese CD ist zumindest online so gut wie nicht zu finden: Bei amazon.de ist der Albumtitel eher kryptisch eingetragen und bei itunes ist die Scheibe mit dem originellen Albumtitel „Jahrhundert“ ausgewiesen. Ergebnis von zu viel Typografie auf dem Albumcover?
Die vielen Fragezeichen, die sich beim Betrachten des Covers im Kopf des Hörers auftun sind wahrscheinlich weniger zahlreich, als die potenzielle Kundschaft, die die CD zwar gesucht, aber wegen kryptischer Einsortierung bei den einschlägigen Onlinehändlern nicht gefunden haben.
Da lobt man sich den immer seltener werdenden CD-Fachhändler, den man physisch und psychisch so weit treiben kann, dass er einem das Gewünschte bestellt.

Und dabei hätte gerade diese Neuerscheinung des in letzter Zeit beachtenswert mutigen „capriccio“-Labels eine möglichst große Aufmerksamkeit verdient gehabt. Das renommierte Ensemble XX. Jahrhundert (kurz: exxj) hat sich alle Mühe gegeben, einen sehr stimmigen Überblick über die derzeitige Neue Musik-Szene zu liefern, wenngleich hierbei (bis auf eine Ausnahme) vor allem Komponisten berücksichtigt wurden, deren Wurzeln im deutschsprachigen Raum liegen. Zu hören sind Stücke von Thomas Heinisch, Wolfgang Liebhart, Karlheinz Essl, Hannes Heher und Jorge Sánchez-Chiong.

Es handelt sich bei diesen Namen durchwegs um bereits gestandene Komponistenpersönlichkeiten, die sich altersmäßig in ihren Vierzigern oder Fünfzigern befinden. Musikalisch bietet die Platte fast alles, was derzeit stilistisch im Bereich der Neuen Musik so „los“ ist. Das reicht von Kompositionen, die noch stark im Serialismus des 20. Jahrhunderts verankert sind bis hin zu freieren, auch neu-tonale Einflüsse mit einbeziehenden Stücken, die im engeren Sinne sicherlich als moderner eingestuft werden können.
Die fünf Stücke sind so ausgewählt, dass aufgeschlossene, aber der Neuen Musik noch nicht so nahe stehende Hörer nicht abgeschreckt werden.
Im Gegenteil: Viele der hier zu hörenden Stücke sind gleich beim ersten Hören erfassbar, zum Teil sehr reizvoll und Neugier auf mehr weckend.
Anderes stellt eingefahrene Hörgewohnheiten stärker auf die Probe, bezieht elektronische Hilfsmittel mit ein und orientiert sich, wie bereits erwähnt, noch ziemlich streng am (meiner Meinung nach) inzwischen überkommenen Serialismus. Mein Eindruck: So komponieren eigentlich fast nur noch Deutsche, bzw. Komponisten aus dem deutschsprachigen Raum. Aber wir sind halt hartnäckig, auch wenn sich die Feuilletons im Rest der Welt zwischen den Zeilen auch schon einmal darüber lustig machen.

Aus den fünf enthaltenen Stücken finde ich persönlich zwei besonders ansprechend. Sie sind so gegensätzlich, wie es nur sein kann: Karlheins Essls „blurred“ ist eine sehr geschickt komponierte, zum Teil zart und zerbrechlich wirkende 15-minütige Komposition, die sicher zum Besten gehört, was ich an Musik aus dem 21. Jahrhundert bislang gehört habe. Es ist teilweise wahrhaft atemberaubend, wie der Komponist aus nur drei Instrumenten (Flöte, Vibraphon und Violoncello) sowie Live-Elektronik (die der Komponist bei der Aufnahme selbst bediente) ein vermeintlich „großes“ Ensemble erstehen lässt und wie sich daraus ein Gespinst aus Klängen formt.
Das zweite Stück, das mich auf Anhieb beeindrucken konnte, ist das wilde Stück „used future“, in welchem der in Wien lebende Venezolaner Jorge Sánchez-Chiong ein wahres Feuerwerk ratternder und hämmernder Klänge heraufbeschwört. Das ist echt spannende Musik! Man fragt sich unmittelbar, ob das eine bloße Fortführung der „Maschinenmusik“ sein könnte, die Komponisten wie Arthur Honegger oder Alexander Mossolow anfangs des 20. Jahrhunderts schon einmal ausgerufen hatten. Doch nein, bei näherem Hinhören stellt man fest, dass es vielmehr ein Nachhall von Klängen aus dem Science-Fiction-Film- und Hardcore-Techno-Bereich sein dürfte, den der Komponist hier im Sinn hatte – und furios umgesetzt hat!
Auch bei diesem Stück ist der Schöpfer des Werks mit von der Partie und bedient die Turntables – also DJ-Plattenspieler, mit denen sich trefflich scratchen und schön anarchischer Krach machen lässt.
Das ist Musik, die zu keiner Zeit gestrig wirkt, sondern bewusst die Klänge des 21. Jahrhunderts nicht nur aufnimmt, sondern selbst verkörpert.

Der Sound der Aufnahmen ist erfreulich direkt und „ehrlich“. In der Tat würde ich mir wünschen, dass mehr Aufnahmen so derb und mitten aus dem Leben genommen klingen würden, wie diese. Dabei lassen die wichtigen Aspekte der akustischen Auflösung und der Räumlichkeit kaum etwas zu wünschen übrig. Diese Live-Aufnahmen klingen in der Tat deutlich besser, als so manche capriccio-Studioproduktion aus den letzten Jahren.

Fazit: Eine ausgezeichnete CD, die derzeit leider schlecht vermarktet wird. Ein Grund mehr, um bewusst und gezielt zuzugreifen! Auch der Sound stimmt, gerade weil er mit Ecken und Kanten daherkommt. Ich persönlich bin völlig begeistert! Höchstwertung.

((Das Hörexemplar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise vom Vertrieb des Labels, der Firma Naxos, zur Verfügung gestellt.))

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