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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Russische Bratschen-Sonaten
Eliesha Nelson & Glen Inanga

(2011)
Sono Luminus

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Eliesha Nelson & Glen Inanga - Russian Viola Sonatas

Vom "russischen Brahms" bis hin zum Kompositionslehrer von Prokoffjew und Mjaskowski

von Rainer Aschemeier  •  26. August 2011
Best.-Nr.: DSL-92136 / EAN: 5347921362

So kann’s gehen! Da müssen erst zwei afroamerikanische Künstler eine CD mit Bratschensonaten russischstämmiger Komponisten aufnehmen, um uns an einen der einstmals im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts beliebtesten Komponisten zu erinnern. Die Rede ist von Paul Juon, der ab 1897 als Professor an der Berliner Musikhochschule tätig war. Mithilfe der Unterstützung von Joseph Joachim entwickelte Juon sich nicht nur zu einem der namhaften Lehrer dieser Universität sondern auch zu einem der beliebtesten Komponisten des späten 19./ frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland, der den Besuchern von Konzerten, in denen seine Musik gespielt wurde, als „russischer Brahms“ geläufig war.

Allein diese hochinteressante „Wiederentdeckung“ rechtfertigt diese wunderbare CD, doch es gibt noch einiges mehr, weswegen sich der Kauf lohnt: Das Programm wurde um weitere Raritäten ergänzt, so etwa um eine halbstündige Sonate und ein kurzes Gelegenheitswerk von Alexander Winkler. Er hatte eine ganz ähnliche Lebensgeschichte wie Juon vorzuweisen, nur emigrierte er 1924 nach Frankreich, um dort Direktor des Musikkonservatoriums von Besançon zu werden.
Die CD wird eröffnet durch eine erstaunlich spannende Bratschensonate der russischen Komponistin Varvara Gaigerova, die ihr nur 40 Jahre währendes Leben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Komponistin und Musikethnologin in Moskau und auf Reisen durch die äußeren Sowjetrepubliken zubrachte. Sie war (wie so viele) Kompositionsschülerin von Nikolai Mjaskowski, was man ihrer Musik auch deutlich anhört. Wenn ich einige russische websites im Internet richtig verstanden habe, war sie indes nicht nur Mjaskowskis Schülerin, sondern auch dessen Duettpartnerin bei Konzerten. Aber das mag ich auch falsch verstanden haben. Jedenfalls ist die Ähnlichkeit zu der Musik ihres Lehrers in hohem Maße gegeben.
Ihre Sonate Op. 8 beginnt mit einem ungestümen, mit chromatischen Melodielinien durchsetzten Satz. Es folgen zwei, in jeder Hinsicht „leichtere“ Satzepisoden, bevor dann im vierten Satz die Chromatik und mit ihr eine düstere, ausweglos wirkende Grundstimmung zurückkehrt. Das ist wahrlich richtig tolle, spannende Musik! Man würde sich wünschen, viel viel mehr von dieser vergessenen Komponistin zu hören, über die man in keinem Komponistenlexikon und noch nicht einmal bei Wikipedia (noch nicht einmal in der kyrillischen „Ausgabe“) etwas findet.

Es folgt das kurze Gelegenheitswerk von Alexander Winkler, das ich bereits angesprochen hatte. Es kommt und geht, ohne viel Eindruck zu hinterlassen. Anschließend gibt es aber wieder viel Grund aufzumerken, denn die Sonate in D-Dur von Paul Juon, Op. 15 (wir erinnern uns: der „russische Brahms“) macht mehr als deutlich, weshalb Juon im Berlin der Jahrhundertwende so beliebt war.

Dieses Porträt zeigt Paul Juon vermutlich in den späten 1920-er-Jahren. Zu dieser Zeit war er bereits seit Langem etablierter Professor an der Berliner Musikhochschule und ein in Deutschland sehr beliebter Komponist, der als "russischer Brahms" tituliert wurde. Bildquelle: Internationale Juon-Gesellschaft; http://www.juon.org/0.IJGHomePage_en.html

Sein Stil ist tatsächlich dem von Brahms und vor allem dessen zahlreichen Epigonen nicht unähnlich, jedoch schafft er es (und das ist ganz sicher Absicht), immer wieder typisch russische Melodien und eine Art russischer „Volksliedharmonik“ in sein Werk einzuarbeiten, was man in der vorliegenden Sonate besonders gut im letzten, dritten Satz hört.
Das ist auch heute noch gut hörbare Musik, die einiges vom Besten der europäischen Hochromantik in sich trägt, allerdings auch arg konservativ wirkt. Aber das dürfte zu Juons Beliebtheit seinerzeit nur beigetragen haben. Später wurde ja bekanntlich auch Paul Juon etwas experimenteller, notierte in ungewöhnlichen Rhythmen ohne Taktstriche und nahm somit Vieles vorweg, was Komponisten wie Boris Blacher später zur voll ausgeprägten Reife führen sollten. Doch in der Bratschensonate auf dieser Compact Disc, welche mit einer „großen“ Sonate von Alexander Winkler endet, ist davon noch nicht viel zu hören.

Das angesprochene Stück von Winkler ist das, mit dem ich persönlich die meisten Probleme habe. Obwohl Alexander Winkler Lehrer von Mjaskowski und Prokoffjew gewesen ist, vermag mich sein kompositorischer Ansatz jedenfalls bei den Stücken auf dieser CD nicht vom Hocker zu reißen. Vieles wenig grundlegend Originelles wird in ihrem Verlauf dermaßen überdramatisiert, dass so einiges in Winklers Musik letztendlich wie ein großer, aufgeblasener Ballon voll heißer Luft wirkt. Am interessantesten ist noch der abschließende Variationssatz über ein bretonisches Thema, der zudem mit knapp 13 Minuten auch deutlich länger ausfällt, als alle anderen Sätze des Stücks. Winklers Stil würde ich übrigens am ehesten mit der Kammermusik Skrjabins vergleichen wollen.

Die junge Bratschistin Eliesha Nelson wurde in Alaska geboren und spielt normalerweise in der Bratschenabteilung des weltberühmten Cleveland Orchestra. Im Florida Philharmonic Orchestra (deutlich weniger weltberühmt…) war sie sogar Solobratschistin. Ihr Spiel ist qualitätvoll, einfühlsam und zeugt von einiger Erfahrung auch auf dem Gebiet der Kammermusik. Sie ist eine Vertreterin eines eher „hohen“, „hellen“ Bratschentons, was der Musik auf dieser CD (vor allem der Juon-Sonate) recht gut zu Gesicht steht.
Ihr Duettpartner, der nigerianischstämmige Pianist Glen Inanga ist ein erfahrener Kammermusikspezialist und kurioserweise zudem Professor am University College der Steueroase der Caiman Islands. Er erweist sich als ebenso routinierter wie empathischer Duettpartner.
Dafür, dass das Klavier auf dieser CD doch ganz schön viel zu „sagen“ hat, haben es die Tontechniker von Sono Luminus (vormals „Dorian“) zu sehr in den Hintergrund gemischt. Die Viola ist jedenfalls eindeutig zu laut, was über Strecken auch zu dem nicht eben realistisch wirkenden Klangcharakter der Aufnahme beiträgt. Aber Eliesha Nelson ist hier nun einmal der „Star“ (sie hat schon mehrmals einen Grammy gewonnen, wie uns das Booklet informiert), und da liegt ja leider bei vielen Labels der Finger immer etwas zu locker auf dem Mischpult (zuletzt hatten wir das „den-Star-bitte-schön-laut“-Phänomen hier: http://www.incoda.de/listener/reviews/204/robert-schumann-klaviertrios-gesamtaufnahme). Zudem erleben wir hier erneut die typische „amerikanische Klangkrankheit“, nämlich eine deutlich wahrnehmbare Überbetonung der Mitten, die bei erstaunlich vielen US-Labels zur aufnahmetechnischen Tagesordnung zu gehören scheint. Warum nur???

Alles in allem ist die CD aber klangtechnisch durchaus noch über dem Durchschnitt angesiedelt; sie ist zum Beispiel sehr schön aufgelöst und hat auch eine schöne räumliche Abbildunng, was man bei Kammermusikaufnahmen deutlich weniger häufig zu hören bekommt, als bei Orchestereinspielungen.

Fazit: Eine ganz tolle CD mit extrem rarem Repertoire. Sie ist sowohl interessant für die Anhänger russischer Musik zur Zeit der Jahrhundertwende und der frühen „Moderne“ (so weit man davon im von Kulturrepressalien geplagten Russland überhaupt sprechen kann) als auch für diejenigen, die sich mehr für die spätromantische Musikumgebung in Deutschland und Frankreich zu dieser Zeit interessieren.
Außerdem dürften eingefleischte Prokoffjew- und Mjaskowski-Anhänger diese Scheibe unverzichtbar finden, weil sie die seltene Möglichkeit bietet, sich mit der Musik Alexander Winklers auseinanderzusetzen, der immerhin der Kompositionslehrer der beiden genannten russischen Großmeister gewesen ist.

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