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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Die Neue Internationale Philharmonie in München

Eine Konzertkritik von Christoph Schlüren

von Christoph Schlüren  •  10. November 2014

Die Legende besagt, dass Tausende Musiker im Lauf der Jahrzehnte in aller Welt durch die Schule von Sergiu Celibidache gegangen sind, und nicht wenige von ihnen wurden Dirigenten und wirken heute an der einen und anderen Position. Doch was bedeutet es, wenn sich jemand als „Schüler Celibidaches“ bezeichnet? Da seine Klasse stets offen war, kann es sich auch um einmaligen Probenbesuch handeln oder um eine Stippvisite bei einem seiner Seminare, sei es einst in Berlin oder später in Siena, Stockholm, Kopenhagen, Stuttgart, Mainz, München, Philadelphia, Schleswig-Holstein oder Paris. Nehmen wir also die Zeugnisse ernst, die ernstzunehmen sind.

Zu seinen prominentesten Studenten, die nicht einfach nur mal reinschauten, zählen beispielsweise Jirí Belohlávek, heute Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, der ihm immerhin zwei Jahre lang nach Stockholm folgte und dort immens von seinem Vorbild profitierte, oder Eliahu Inbal, wo allerdings später nicht mehr allzu viel von der Kultur des Meisters zu erkennen war. Einige sind ihm jahrelang gefolgt, doch für diese wurde es aufgrund dessen, was sie erlebten, schwer, im geschäftigen Kulturbetrieb Fuß zu fassen – fanden sie doch dorthin nicht im mindesten die Arbeitsbedingungen vor, die sich Celibidache allerorten, wo er wirkte, ausbedungen hatte. Was also tun?
Da bleibt nur: selbst etwas aufbauen.
Unter denen, die es unter teilweise unter größten Entbehrungen mit in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenem Erfolg taten oder tun, seien beispielhaft Tilmann Köster, der bis zu seinem frühen Tod im vergangenen Jahr sein Brot mit dem Schreiben von Kritiken unter Pseudonym verdiente, der Katalane Jordi Mora, der profilierte Blasorchesterleiter Markus Theinert oder der als Violinsolist unter Celibidache zu Ehren gekommene Rony Rogoff mit seinem venezianischen Kammerorchester genannt.
Am nächsten stand Celibidache in seiner Münchner Spätzeit der 1958 in Stuttgart geborene Konrad von Abel, der bei den Münchner Philharmonikern als Assistent des Maestro wirkte und dort auch einmal für den erkrankten Günter Wand einsprang, und dem Celibidache die Elementarausbildung seiner Dirigentenklasse übertrug. Was macht Konrad von Abel heute?

Er dirigiert viel in Rumänien, der wirtschaftlich am Boden liegenden Heimat seines einstigen Meisters, außerdem immer wieder in Frankreich und vielen anderen Ländern, und er hat eine Studentenklasse um sich geschart, in der sich vielversprechende Begabungen wie der Venezolaner Miguel Ercolino oder der Rumäne Lucian Beschiu hervortun. Unermüdlich arbeitet von Abel daran, das zu vermitteln, was sich auf etabliert professionellem Wege und mit kurzfristigem Effizienzdenken nicht erobern lässt. Er vermittelt die Grundlagen der musikalischen Phänomenologie, der einzigen systematisch forschenden Wissenschaft, die eine ganzheitliche praktische Erfahrung beim Musizieren insofern ermöglicht, als alles, der musikalische Prozess und das Einswerden mit dem Tun mit Bewusstheit durchdrungen und zugleich in einem spontanen Akt des Gestaltens freigesetzt werden kann. Von Abel ist zu einer eigenständigen künstlerischen Persönlichkeit gereift, die es nicht nötig hat, sich mit künstlich generierter ‚Originalität’ behaupten zu müssen, sondern voll und ganz das lebt, was sie tut.
Es gibt keine Trennung zwischen Theorie und Praxis, und die subjektiven Gaben entfalten sich in der Hingabe an den lebendigen Fluss des nicht interpretablen, sondern in seinen jeweils einmaligen Gesetzmäßigkeiten entstehenden Formgeschehens, das als geschlossenes Ganzes erstehen soll.

1991 gründete Konrad von Abel in München den Monteverdi-Chor und hat dort eine Arbeit von beispielhafter Vertiefung und Kultur in Gang gesetzt, die ihresgleichen sucht. Vor drei Jahren hat er mit einem Team von fünf im Hintergrund wirkenden ehrenamtlichen Helfern eine Erweiterung dieser Arbeit in Gang gesetzt, deren Fortführung nunmehr insofern offen ist, als finanzielle Unterstützung für die Unternehmung dringend vonnöten ist. Wo sind die vielen Verehrer Celibidaches geblieben, von denen doch gar so viele klagen, dass der Meister nicht mehr da ist?

Man gründete also die Neue Internationale Philharmonie, in welcher sich heute viele durchweg professionelle Musiker aus Spanien, Rumänien, Frankreich, Deutschland, Serbien, Venezuela, Island, Kuba, den USA usw. einmal im Jahr zusammenfinden, um Aufführungen von singulärer Qualität zu erarbeiten. Gerne würde man künftig wenigstens zweimal pro Jahr zusammenarbeiten. Es begann 2012 mit einer Gedenkaufführung von Bruckners Messe in f-moll anlässlich Celibidaches 100. Geburtstag, und im Vorjahr folgte Mozarts Requiem in der ergänzten Fassung von Robert Levin, gekoppelt mit dem ‚Dona nobis pacem’ von Peteris Vasks.

Und nun also zum dritten Mal: diesmal eröffnete man das Konzert im Münchner Herkulessaal der Residenz mit der Tragischen Ouvertüre und dem Schicksalslied nach Hölderlin von Johannes Brahms, gefolgt vom Requiem op. 48 von Gabriel Fauré. In zwei Wochen Proben erarbeitete ein Orchester von 58 Musikern die instrumentale für das, was der 75-köpfige Chor in monatelanger Arbeit vorbereitet hatte. Sämtliche Bläser begleiten in ihrem Alltag Solopositionen in tradierten Orchestern, und hier lassen sich alle für ein symbolisches Honorar auf eine Intensität der Einstudierung ein, die jedesmal aufs Neue ein Abenteuer ist, darauf, die Musik wirklich neu zu entdecken in all ihren organischen Zusammenhängen.
Programmatisch ist der erste Teil nicht wirklich ideal zusammengestellt, doch zumindest stellt sich bei den beiden Brahms-Werken ein so extrem spätherbstlicher, Wehmut-durchtränkter Zustand ein, dass das Requiem von Fauré danach eine noch größere Heiterkeit und Gelassenheit ausstrahlt als sonst. Die Tragische Ouvertüre kommt daher als ein weitgespanntes Kontinuum der Entwicklung von seltener Durchsichtigkeit, Balance, klar und dabei flexibel pulsierender Präzision und subtiler Proportion des Formgeschehens. Wunderbar, wie die Blechbläser mit ihrem machtvollen Klangpotential die kleine Streicherbesetzung nicht einmal unangemessen übertönen und nur dort dynamische Gipfelpunkte setzen, wo ihnen diese Rolle auch in der Faktur zukommt, und bei aller Innigkeit schleicht sich keine anhängliche Sentimentalität ein. Danach das selten zu hörende Schicksalslied, bei dem das Orchester im Vor- und Nachspiel alleiniges Ausdrucksmittel ist. Das Schicksalhafte überwiegt das Tröstende, woran die alles andere als Unsinnliche, jedoch nüchtern das Wesentliche verwirklichende Aufführung tragenden Anteil hat. Die unbestreitbare Tendenz bei diesem Werk, dass im Auskosten des tief resonierenden klanglichen Reichtums die Konturen, zumal die rhythmischen, verschwimmen können, kennen wir, doch hier kann keine Rede davon sein.Das durchtragende Momentum ist unaufhaltsam, das Werk „bahnt sich seinen Weg“.

Dies gilt auch, wenngleich in viel einfacherer, gelockerterer Faktur, für das Requiem von Fauré. Die beiden Solisten, der Bariton Ludwig Mittelhammer und die Sopranistin Katharina Preuss, agieren makellos und gestatten sich keine willkürlichen Eigenmächtigkeiten. Die wahre Sensation ist hier allerdings der Chor, der mit einer Transparenz, Einheitlichkeit des Ausdrucks, Feinheit der Abtönungen und Modulationen, schwerelos natürlichen Sanglichkeit, Präzision der Aussprache, die nie deklamatorischer Selbstzweck wird, und mit einem feinabgestimmten Bewusstsein für Kontrapunkt und Balance agiert, wie wir dies in solcher Ausgeglichenheit von weit prominenteren Ensembles nicht kennen. Und das Orchester, rein instrumental kaum anspruchsvoll behandelt, begleitet nicht nur einfach im Hintergrund, sondern präsentiert ein von Leben erfülltes Gewebe, das je nach Bedeutung beweglich in den Vordergrund tritt oder die Mannigfaltigkeit des Hintergrunds gewährleistet. Jeder hört hier auf jeden, es ist wie eine ideale Form der Kammermusik, ausgeführt von 133 Mitwirkenden, die jedes Zeichen ihres Leiters wahr- und ernstnehmen. Machtvoll ersteht das Libera me, unwiderstehlich fließend gelingen auch die heiklen Übergänge. Am schönsten gelingt wohl das Sanctus, das sich organisch und anmutig wie eine Blume entfaltet. So erfüllend und transzendent kann Musik sein, wenn man die Voraussetzungen schafft, dass sie aus den ihr innewohnenden Kräften entstehen kann.

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