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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts

Die Kolumne: "Listening for the-listener": Christoph Schlüren - Folge XIV

von Christoph Schlüren  •  8. November 2013

Mit qualitätsbewusster Entdeckerfreude und fast schon beispielloser Beharrlichkeit treibt das kleine, feine Berliner Label eda records (vormals: Edition Abseits) über die Jahre hinweg seine exklusive Reihe ‚Poland Abroad’ voran und macht uns mit verschütteten Schätzen bekannt, die stets auf tadellos professionellem Niveau und mit dramaturgischem Feingefühl und exzellenten Begleittexten präsentiert werden. Nun ist der fünfte Beitrag erschienen, und ich kann nicht anders als den bisherigen Höhepunkt der Reihe darin erblicken. Dies liegt vor allem anderen an dem grandiosen Quintett für Klarinette, Fagott, Violine, Cello und Klavier von 1944 von Konstanty (Constantin) Regamey (1907-82), das Bookletautor Frank Harders-Wuthenow, der mehr als irgendein anderer für die polnische Musik in Deutschland bewegt, bei anderer Gelegenheit völlig zu Recht als eines der bedeutendsten Kammermusikwerke des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat. Ja, darin liegt nicht einmal eine Spur von Übertreibung, und für mich liegt der musikalische Wert dieses Quintetts noch über dem des unter vergleichbar abgründigen Umständen komponierten ‚Quatuor pour la fin du temps’ von Olivier Messiaen – es wäre von höchstem Reiz, Regameys Werk zusammen mit dem 1924 entstandenen, ähnlich freisinnig elaboriert auftretenden Quintett für Klarinette, Horn und Streichtrio von Heinrich Kaminski aufzuführen.
Regamey, dessen Vorfahren aus der Schweiz, Polen, Ungarn, Italien, Serbien und Schweden stammten, entkam dem sicheren Tod im Konzentrationslager Stutthof nur dank seiner doppelten Staatsbürgerschaft und konnte so ein zweites Leben in der Schweiz beginnen, wo er dann in den fünfziger Jahren seinem Landsmann Andrzej Panufnik zu dessen spektakulärer Flucht in den Westen verhalf.

Er lehrte als Linguist und Philologe an den Universitäten von Fribourg und Lausanne, beherrschte ca. 20 Sprachen, war als Komponist Autodidakt, und es dürfte unter seinen Zeitgenossen wenige gegeben haben, die über eine solch brillante Technik verfügten. In seiner Musik verschmelzen unterschiedlichste Linien wie etwa Schönberg, Szymanowski, sowjetische Grimasse und französischer Neoklassizismus zu etwas unerhört Neuem, zu einer an Einfällen und Überraschungen überreichen, dabei hochkonzentrierten und kohärenten Tonsprache von einer Spannung und Abenteuerlichkeit, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt. Den Ausführenden wird dabei immense Virtuosität der idiomsicher ziselierten Partien und feinste Nuancierung und Abstimmung abverlangt, und selten habe ich einen so originellen und wandlungsreichen Variationssatz der frei zwölftönigen Epoche gehört wie den fast 18-minütigen Kopfsatz seines Quintetts. Der frei tristaneske Themenkopf, eingangs dem magischen Beginn von Sibelius’ Erster Symphonie aus der Ferne Widerhall gebend von der Klarinette allein vorgetragen, kehrt im Finale wieder und sorgt so für fesselnde zyklische Einheit des Werkes, das in jedem Takt von Inspiration durchtränkt ist und bezwingenden inneren Zusammenhang offenbart. Die Dodekaphonie diente Regamey übrigens, so zitiert Harders-Wuthenow, nicht dazu, „die Tonalität zu ersetzen, sondern einzig dazu, eine polyphone Disziplin zu liefern und eine interne, thematische und harmonische Einheit zu schaffen“. Herausgekommen ist dergestalt ein Gipfelwerk der spätexpressionistischen Freitonalität.
Doch auch die zwei weiteren Kompositionen zeugen von erlesenster Qualität und sollten uns gleichfalls aufschrecken ob der geringen Bekanntheit ihrer meisterhaften Schöpfer. Józef Koffler (1896-1944) aus dem galizischen Stryj, der in Wien studierte, gehörte ab 1926 zu den Pionieren der Zwölftonmethode im Gefolge Arnold Schönbergs und wurde Anfang 1944 bei einem Massaker der deutschen Armee getötet. Seine viersätzige kleine Kantate ‚Die Liebe’ auf Paulus’ ergreifendes „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete“ ist von feinnerviger Konzentration des Ausdrucks gezeichnet und – wie auch die anderen Werke – ausgesprochen intensiv, klar und sensibel dargeboten. Zum stilistischen Unterschied zwischen Regamey und Koffler merkt Harders-Wuthenow an: „Dient Regamey die Reihe (bzw. die Reihen) gleichsam als Rohstoff für die Organisation komplexer harmonischer wie melodischer Verläufe, in denen die thematische ‚Persönlichkeitsstruktur’ der Reihe eher wie ein genetischer Code funktioniert, so tritt gerade diese bei Koffler dominierend, also melodisch-thematisch hervor.“
Eine ganz andere Sprache spricht Szymon Laks (1901-83), der in Paris wirkte und 1942 nach Auschwitz deportiert wurde, wo er, so sein Zeugnis, „durch eine unendliche Reihe von Wundern“ überlebte. Das Divertimento für Flöte, Violine, Cello und Klavier war 1966 eine seiner letzten Kompositionen, bevor er sich fast ausschließlich schriftstellerischer Tätigkeit zuwandte. Dieses dreisätzige Werk ist französischer Neoklassizismus in höchster Verfeinerung, von subtilster Raffinesse und zugleich veredelt musikantischer Ursprünglichkeit, und wäre er Franzose gewesen, so dürfen wir sicher sein, dass sein Name heute einer der ersten wäre, die in diesem Zusammenhang genannt würden, einem Jacques Ibert zumindest ebenbürtig.
Auch der Aufnahmeklang (in der Siemens Villa, Berlin-Lankwitz) lässt nicht zu wünschen übrig. Eine uneingeschränkte Empfehlung also, und insbesondere Regameys Quintett ist für alle, die wenigstens die Schlüsselwerke des vergangenen Jahrhunderts kennen wollen, unumgänglich.

———- CD-Details:

Konstanty Regamey: Quintett für Klarinette, Fagott, Violine, Cello & Klavier (1944); Józef Koffler: Love, Kantate op. 14 für Sopran, Klarinette, Viola & Cello (1931); Simon Laks: Divertimento für Flöte, Violine, Cello & Klavier (1966)

Eleonore Marguerre (Sopran), Ib Hausmann (Klarinette), Silvia Careddu (Flöte), Frank Forst (Fagott), Gernot Süßmuth (Violine), Stefan Fehlandt (Viola), Hans-Jakob Eschenburg (Cello), Frank-Immo Zichner (Klavier)

eda records EDA 37 (Vertrieb: Schott Music & Media GmbH)
Dauer: 57’20“
EAN: 840387100371

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