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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Grandiose Dokumente in beispiellos liebloser Verpackung

Die Kolumne: "Listening for the-listener": Christoph Schlüren

von Christoph Schlüren  •  19. Februar 2013

Carl Schuricht (1880-1967) war einer der ganz großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Einer, den sogar Sergiu Celibidache hoch schätzte – war doch ein Urteil wie „Schuricht war ein wunderbarer Musiker“ mit dem Nachsatz „und ein sehr ungeschickter Dirigent“ aus Celibidaches Mund ein kaum zu übertreffendes Lob.
Von Schuricht kennt die Welt vor allem seine legendären Bruckner-Aufnahmen und den Beethoven-Zyklus mit dem nicht ganz so glanzvollen Pariser Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire. (Dieser Beethoven-Zyklus ist zusammen mit den Wiener Philharmoniker-Einspielungen der Dritten, Achten und Neunten Bruckner soeben in der EMI-Historic-Serie ‚Icon’ wiederveröffentlicht worden – eine Box, die allen Interessenten nachdrücklich empfohlen sei und bezüglich beider Komponisten zum Besten zählt, was die Schallplattengeschichte hergibt!)

In Zusammenarbeit mit den Orchesterabwicklungsverbrechern vom SWR hat Hänssler Classics vor einigen Jahren bereits eine sehr empfehlenswerte erste Schuricht-Stuttgart-Box herausgebracht, die auch so herrliche Raritäten der deutschen Romantik enthielt wie das einsätzige Violinkonzert von Hermann Goetz oder Robert Volkmanns Ouvertüre zu Shakespeares Richard III. Nun also Folge Zwei.

Und was leider sofort äußerst negativ auffällt, ist ein Booklet, das angesichts einer solchen offiziellen Edition erschreckend lieb- und inhaltslos ausgestattet ist (so etwas kennen wir nur von italienischen Schwarzmarkt-Labels…).
Zwei Seiten über den Maestro, auf denen man nichts Neues erfährt, wäre nicht unbedingt schlimm. Dann aber: wie kann man ein so unkomfortables Verfahren wählen, um Werke, Solisten und Aufnahmedaten einander zuzuordnen – man kommt sich vor, als sei man selbst aufgefordert, Archivforschung zu betreiben. Nun gut, auch diesen gedankenlosen Unfug würde ich als unfreiwillig komische deutsche Bürokratenwirtschaft noch mit einem Lächeln hinnehmen, als vertane Chance zur direkten Kommunikation. Doch was wirklich extrem ärgerlich ist: Man präsentiert seltene Werke von kaum bekannten Komponisten, und nun urteile der Leser selbst, was er von dem folgenden (einzigen Kommentar) von Autor Ulf Scharlau (den man nur bedauern kann, angesichts des dürftigen Textumfangs, der ihm für eine so umfassende Edition eingeräumt wurde) hält:
„Die vorliegende Edition freilich musste sich beispielhaft auf das große sinfonische Repertoire des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts beschränken, wobei heute inzwischen nahezu unbekannte Werke, die in Schurichts Konzertprogrammen erschienen und deren Wiederentdeckung lohnend erschien, mit berücksichtigt wurden (Raphael und Oboussier).“

„Freilich“: c’est tout.
Ich möchte gar nicht weiter darauf eingehen, wie viele Hörer auch nur ein klein wenig Bescheid wissen dürften über Emil Nikolaus von Reznicek oder Boris Blacher. Und Günter Raphael, der zuletzt tatsächlich umfangreich wiederentdeckt wird, kennen gewiss die wenigsten, und der Text tut nichts dazu, als uns zu sagen, dass das Unbekannte unbekannt ist (als würde man Ihnen eine unbekannte Person vorstellen als „unbekannte Person“).
Naja, die Ironie wollte es, überdies sowohl überflüssiger- als auch glücklicherweise, dass die hier vorgelegte Aufnahme von Raphaels Sinfonia breve quasi zeitgleich auch in der Raphael-Edition des verdienstvollen Labels Querstand erschien – eine peinliche Panne, und wer’s genauer wissen will, kann sich nun diese CD zusätzlich anschaffen (sehr lohnend, mit Stokowskis Dirigat der aparten Jabonah-Suite nach mongolischen Volksweisen) und im dortigen Booklet angemessenere Information einholen.
Alles andere als amüsant! Und der SWR, einst in guten Tagen ein Hort lebendiger Kultur, hat die Lizenz zweimal vergeben – ob die Betroffenen darüber informiert waren? Wohl kaum. Diese Rarität (ein durchaus hübsches Stück, wenngleich nicht gerade eines der besten von Raphael) ist also folglich gar nichts wert…

Doch dann ist da das einsätzige Violinkonzert vom Schweizer Robert Oboussier (1900-57), dem Mann, der einst ein viel gelesenes Buch über die Symphonien Ludwig van Beethovens geschrieben hat. Viel gäbe es über ihn zu berichten, sähe man nur Anlass dazu. Und bislang wird man vergeblich nach Orchesterwerken Oboussiers auf CD suchen. Es handelt sich hier also nicht nur bezüglich der Aufnahme, sondern auch bezüglich des von Expressionismus und Nachromantik gezeichneten Werkes überhaupt um eine Erstveröffentlichung – und wir erfahren nichts, nicht einmal das Entstehungsdatum. Nichts! Wo bleibt das Strafmaß? Rote Karte für die Verantwortlichen!

Doch wir werden ohnehin an der Nase herumgeführt: Warum eigentlich „musste“ sich diese Edition auf das gängige (dies wohl das treffendere Wort als das „große“) symphonische Repertoire „beschränken“? Weil unsere öffentlich-rechtlichen Anstalten längst vergessen haben, dass ein Bildungsauftrag vorliegt, und weil sie sich dank der Politik jetzt auch noch mit einer pauschalen Garantiegebühr von jedermann, der teilhat oder nicht, für ihre Strategie der kommerzialisierenden Dekadenz belohnen lassen? Wenn schon im Booklet erwähnt wird, Schuricht habe auch Werke von Frederick Delius (der Großmeister des englischen Impressionismus gehört also mit seinem Sea-Drift nicht zum „großen sinfonischen Repertoire“?), Aloys Fornerod, Philipp Mohler und anderen aufnehmen lassen, warum nicht das bisschen Mut und Geradlinigkeit, uns damit zu erfreuen? Es gibt weltweit genug Schuricht-Fans, um damit wahrscheinlich sogar auch kommerziell erfolgreicher zu sein als mit der leichtfertigen Wiederauflage von Standard-Repertoire, das zu einem guten Teil einst bereits bei Archiphon in exzellenter Klangqualität und Kommentierung auf CD erhältlich war. Ein Trauerspiel, so weit.

Nun zum künstlerischen Inhalt – der glänzenden Seite dieser Medaille!
Gottseidank hat Schuricht das „große sinfonische Repertoire“ hinreißend dirigiert, und die Box ist preiswert zu haben, sodass man wenigstens – wenn man schon nichts darüber wissen darf – mit musikantisch zündenden, klar strukturierten, sanglich phrasierten Aufführungen übers Ohr entschädigt wird.
Zu Schurichts Beethoven, Brahms oder Schubert will ich hier nichts weiter bemerken, als dass es sich um die deutsche Tradition in ihren besten Tugenden handelt: substanziell, expressiv, mit zart-herber Poesie, unsentimental nüchtern und dabei tief empfunden. Dergestalt sind besonders berückende Aufführungen von Schumanns Rheinischer Symphonie, den zwei beliebten Weber-Ouvertüren zu Oberon und Euryanthe, Wolfs technisch heikler und in der Fassung für kleines Orchester kaum zu hörender Italienischer Serenade, Liszts imrpovisatorisch weitausgreifender Berg-Symphonie und Strauss’ hinreißend über die innere Leere hinwegschießender Spießer-Apotheose Sinfonia domestica zustande gekommen. Wundervoll spritzig Rezniceks Donna Diana-Ouvertüre mit ihren prächtigen Mendelssohn-Echos, absolut fesselnd Tschaikowskys Hamlet-Fantasie-Ouvertüre, und in der musikalischen Beherrschung der Faktur sozusagen Seite an Seite mit Joseph Keilberths legendärer Studio-Aufnahme die Spitze bildend: Max Regers hochkomplexe Variationen und Fuge über ein (ach wie entzückend zopfiges!) Thema von Johann Adam Hiller. Dazu gibt’s faszinierende Proben-Ausschnitte.

Ach ja, das könnte alles so erfreulich sein. Doch dazu müsste man eine integre Kulturschlacht entflammen und – zu aller Gewinn – gewinnen, um sodann eine neue feuilletonistische Nachkriegszeit zu eröffnen, die wieder etwas hält von Bildung und Kultur.
Bitte verzeihen Sie den scharfen Ton! Wir sind zu satt, um wahr zu sein.
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CD-Details:

Carl Schuricht Collection Vol. II (Aufnahmen von 1951-66):

Beethoven: Symphonien Nr. 1, 3, 4, 5 und 6; Weber: Ouvertüren zu Euryanthe und zu Oberon; Schubert: 5. Symphonie; Schumann: 3. Symphonie; Liszt: Ce qu’on entend sur la montagne; Brahms: Symphonien Nr. 1, 3 und 4, Alt-Rhapsodie (Lukretia West, Alt), Tragische Ouvertüre; Tschaikowsky: Hamlet; Wolf: Italienische Serenade; Reznicek: Donna Diana-Ouvertüre; Debussy: La mer; Strauss: Sinfonia domestica; Reger: Hiller-Variationen op. 100; Robert Oboussier: Violinkonzert (Roman Schimmer, Violine); Boris Blacher: Concertante Musik op. 10; Günter Raphael: Sinfonia breve op. 67; Probenausschnitte zu Brahms (2. Symphonie) und Wagner (Parsifal-Orchesterstücke)

Radio-Sinfonie-Orchester Stuttgart (damals Süddeutscher Rundfunk, heute SüdWestRundfunk), Carl Schuricht;
Hänssler Classics / Vertrieb: Naxos
Katalognummer: 93.292 (10 CDs) / EAN: 4010276025221
Gesamtdauer: 653 Minuten

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