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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Jenseits von Tango und Schneewalzer

Zwei neue CDs entführen uns in die Welt des "klassischen Akkordeons"

von Rainer Aschemeier  •  28. Oktober 2011

Wenn die Namen von Musikinstrumenten wie Akkordeon, Mundharmonika oder Harmonium fallen, dann hat man auch gleich drei vermeintlich passende Bilder im Kopf: Volksmusik, Bluesman und alte, kleine Dorfkirche ohne Geld für eine „richtige“ Orgel. Wahrscheinlich treffen diese Szenarien auch in vielen Fällen zu, doch es geht auch anders. Spätestens seit den wunderbaren Kompositionen des argentinischen Komponisten Astor Piazzolla wissen wir: Das Bandoneon (eine große Variante des „Concertina“, das wiederum eine Abwandlung des Akkordeons ist), kann mehr als nur zum Tango aufspielen. Die kunstvollen Bandoneonkonzerte des Argentiniers sorgten schon früh für hochgezogene Augenbrauen und sind bis heute das Paradebeispiel dafür, was eine „Quetschkommode“ mit Orchesterbegleitung so alles zu leisten vermag.


Doch das ist akkordeonmäßig gesehen ja nur der Gipfel des Eisbergs. Gleich zwei neue CDs stellen uns weitere Vertreter aus der Gruppe der Handzuginstrumente vor: Beim Label „Champs Hill Records“ erscheint eine g e n i a l e neue CD der lettischstämmigen Akkordeonvirtuosin Ksenija Sidorova. Auf der schlicht „classical accordeon“ betitelten CD entfacht sie einen Wirbelwind sondergleichen und führt uns durch nicht weniger als 400 Jahre Musikgeschichte, von Johann Sebastian Bach über Wolfgang Amadeus Mozart bis hin zu Alfred Schnittke und Luciano Berio. Sind ihre Bach- und Scarlatti-Bearbeitungen wegen der unglaublichen Virtuosität der Künstlerin und der beachtlichen Fähigkeit ihres Instruments auch winzige Dynamiknuancen abzubilden bereits ein echter „Hinhörer“, so ist man nach den Schnittke- und Berio-Kompositionen restlos überzeugt: Das Akkordeon ist mehr als ein Ausdrucksmittel für sentimentale Seemänner und tanzfreudige Bergbewohner. Es hat seinen eigenen Charakter, der äußerst expressiv sein und von leicht und federnd bis dunkel und schwermütig alle Emotionen vermitteln kann. Die CD ist zudem von Tonmeister Alexander van Ingen mit einem sensationell hochaufgelösten und satten Sound versehen worden, sodass dies eine echte Empfehlung ist. Nervt Sie Ihr akkordeonspielender Nachbar mit der 100. Wiederholung des Schneewalzers? Zeigen Sie ihm mit dieser CD was er alles anders machen könnte!


Eine weitere Neuerscheinung rückt das Bajan in den Mittelpunkt des Geschehens. Es ist eine osteuropäische Variante eines chromatischen Knopfakkordeons. Es hat keine Tasten, sondern „nur“ eine gefühlte Million Knöpfe, mit denen sich ein besonderes Kunststück bewerkstelligen lässt: Sie können einzelne Töne wiedergeben, aber auch „per Knopfdruck“ komplette Akkorde. Auf diese Weise sind chromatische Spielereien möglich, die wahrscheinlich mit kaum einem anderen Instrument so darstellbar wären.
Die in Hamburg lebende Komponistin Sofia Gubaidulina, die aufgrund ihrer tatarischen Herkunft das Bajan in ihrer Kinderzeit womöglich oft gehört hat, ist mit dem Stück „Fachwerk“ ein Wagnis eingegangen: Sie wollte die mechanische Konstruktion des Instruments Bajan in Musik fassen. Ob ihr genau das gelungen ist, lassen wir mal dahingestellt, doch das gut 35-minütige Werk, das dabei herausgekommen ist, fasziniert in höchstem Maße. Es „knarzt“ und „ächzt“ an allen Ecken und Enden und erinnert so tatsächlich etwas an eine Holzkonstruktion, die sich in der Sommersonne reckt, streckt und räkelt. Das Trondheim Symphony Orchestra unter der Leitung von Øyvind Gimse ist der ideale Begleiter für den Bajan-Virtuosen Geir Draugsvoll, der auch die Uraufführung von „Fachwerk“ im Jahr 2009 bestritt. Ein Kammermusikwerk der Komponistin, geschrieben für Bajan, Violine und Cello und mit dem Titel „Silenzio“ versehen rundet das Programm auf dieser ebenfalls wunderbaren CD ab. Auch klanglich ist sie ein großer Wurf, wenngleich sie eher in der „normalen“ Oberliga unterwegs ist und nicht unbedingt im „Hifi-Ausnahmesektor“.

Nun haben wir viel über Akkordeon und co. geschrieben… was ist mit Mundharmonika und Harmonium? Das ist eigentlich eine eigene Geschichte wert, die ich gern mal etwas ausführlicher ausbreite, wenn es zu Neueinspielungen von Ralph Vaughan Williams Romanze für Mundharmonika und Streichorchester kommt oder zu einer neuen Aufnahme der Konzertharmoniumwerke von Sigfrid Karg-Ehlert oder dem Stück „Harmonium“ von John Adams oder, oder, oder…

Es gibt so viel zu entdecken…

Wie schön!!!

((Die im Text besprochenen CDs wurden uns freundlicherweise von den Firmen „note 1“ und „Naxos“ zur Verfügung gestellt.))

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