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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Flammendes Plädoyer für die Unsterblichkeit der Barockmusik

Die Kolumne: "Listening for the-listener": Christoph Schlüren - Folge XVII

von Christoph Schlüren  •  5. April 2014

Die US-amerikanische Geigenvirtuosin Rachel Barton Pine ist mir in den letzten Jahren aufgefallen als eine der feinsten und auch technisch makellosesten Musikerinnen unserer Zeit, die bei ihrem Chicagoer Stammlabel Çedille Records außerdem einen ausgesprochen intelligenten Sinn für Kopplungen bewies: das Beethoven-Konzert zusammen mit seinem nicht allzu inspirierten formalen Vorbildwerk von Clement (mit José Serebrier als Dirigent) und das Brahms-Konzert mit demjenigen von Joseph Joachim. Zuletzt schenkte sie uns eine wundervoll kantable Einspielung der Konzerte von Mendelssohn und Schumann. Nun also zieht sie auf vier zwischen 2007 und 2012 erschienenen CDs, die in einer Box unter dem Titel ‚Grand Tour’ zusammengefasst wurden, Bilanz ihrer Arbeit mit dem Trio Settecento, also dem Gambisten und Cellisten John Mark Rozendaal und dem Cembalisten und Organisten David Schrader – es versteht sich sozusagen von selbst, dass auch diese beiden hochkarätige, ausgesprochen feinfühlige und stilsichere Meister ihres Instruments sind. Das Trio hat sich in vielen Jahren einen Zugang zu einer historisch informierten Spielpraxis erarbeitet, der sich in wesentlichen Punkten abhebt vom dogmatisch konditionierten Mainstream der meisten Kollegen: keine idiotische Überbetonung der schweren Taktzeiten (was besonders unmusikalische Zeitgenossen für ein Merkmal ‚tänzerischer’ Qualität halten – wäre dem so, so wäre der ganze Jazz, die ganze orientalische Musik mit der von der Taktschwere emanzipierten melodischen Energie, mit der Hervorhebung des Synkopischen „untänzerisch“, doch das Gegenteil ist der Fall, die Betonung der schweren Taktzeiten bricht den melodischen Fluss, zerstört die harmonische Korrelation, macht die Musik kurzatmig und reduziert sie auf standardisierte Floskeln ohne individuelle Züge); keine unnötig oder nachlässig verkürzten Notenwerte, die das Sangliche torpedieren und die farbliche Palette verstümmeln; keine überhetzten Tempi, die die Charaktere nivellieren und uns um alle Adagio- und Largo-Satztypen betrügen; kein ausgedörrtes, lebloses Non-Vibrato. All diesen Unfug bekommen wir hier nicht serviert. Stattdessen: in weiten Bögen erblühende Melodik, sinnträchtige artikulierte harmonische Fortschreitungen, leichtfüßiger und kraftvoller rhythmischer Fluss, geschmackvoll variiertes Vibrato in schlanker Amplitude.

Wunderbar, wie sich dergestalt die unterschiedlichen Stilwelten der italienischen, deutschen, französischen und englischen Barockmusik entfalten können, wie diese vier Alben auch dem nicht mit Vorwissen belasteten Hörer wirklich einen sowohl unmittelbaren als auch nachhaltigen Geschmack davon vermitteln können, wie unterschiedlich die Mentalitäten sind und welch unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des Ausdrucks zugleich innerhalb eines jeden ‚Nationalstils’ zu erkunden ist. Die CDs sind mit exemplarischen Komponisten zusammengestellt, wobei durchaus auch so berühmte Meister wie Telemann, Torelli oder Vivaldi fehlen, was allerdings keineswegs schmerzt und mit mancher großartigen Musik minderen Bekanntheitsgrads mehr als wettgemacht wird. Hier kann man die Spannweite der italienischen Musik in ihrer anmutigen Kantabilität und vitalen Spielfreude erleben, die französische Musik in ihrer ornamentischen Eleganz und pfauenhaften Pracht, die deutsche Musik in ihrer innigen Geradlinigkeit und kontrapunktischen Vollendung, die englische Musik in ihrem gemeinschaftlichen Geist und ihrer hymnischen Objektivität.
Es ist schlicht zauberhaft, Rachel Barton Pine und ihre Mitspieler in Stücken von Corelli, Locatelli, Tartini, Veracini, Händel, Bach, Erlebach, Pisendel, Couperin, Rameau, Leclair oder Purcell zu lauschen, um nur einige herauszugreifen. Eigentlich ist alles weitgehend vorbildlich gelungen, am wenigsten die Consort-Stücke der Engländer William Lawes, John Jenkins und Christopher Simpson, wo die Geige etwas zu dominant herausscheint (beziehungsweise die beiden Partner zu neutral bleiben). Ganz besonders überrascht und berührt hat mich die Begegnung mit Johann Philipp Krieger (1649-1725), auch mit Georg Muffat (1653-1704), und ich durfte feststellen, längst vergessen zu haben, auf welchen Meistern die Entwicklung unserer deutschen Instrumentalmusik fußt. Auch Erlebachs eigentümliche Gediegenheit und Pisendels strahlende Virtuosität offerieren Juwelen, und natürlich gipfelt das alles in Bach. Und in Händel, in Couperin, Rameau, Tartini, Veracini, Leclair…
Schöner kann das alles wohl kaum gespielt werden, auch wenn ich mir gelegentlich eine noch entschiedenere Unabhängigkeit von der Takt-Eins wünschte, insbesondere hinsichtlich des sehr subtilen, geschmackssicheren Rubato-Gebrauchs.
Das Booklet ist textlich vortrefflich gestaltet. Ein Fehler hat sich eingeschlichen: der italienische Pionier der Violinsonate, Biagio Marini (1594-1663) wurde Opfer einer Verwechslung, man hat ihm die Geburts- und Sterbedaten des 15 Jahre nach seinem Tod geborenen Antonio Vivaldi zugeordnet. Auch das Klangbild ist exzellent – ausgewogen, mit einer natürlich anmutenden Räumlichkeit. Wer barocke Violinmusik liebt, sollte unbedingt zugreifen. Und wer von den redundanten Moden der ‚historischen Aufführungspraxis’ abgeschreckt ist, ebenso. Rachel Barton Pine und ihr Trio musizieren auf der Höhe der Zeit, doch jenseits der Niederungen primitiver Philologiegläubigkeit. Diese hinreißenden Rundreise-Impressionen des europäischen Barock sind ein flammendes Plädoyer für die Unsterblichkeit einer längst lebendig begrabenen Kunst.
—— CD-Details:

Trio Settecento: Grand Tour
Rachel Barton Pine (Violine), John Mark Rozendaal (Viola da gamba, Violoncello), David Schrader (Cembalo, Orgelpositiv)

CD 1 ‚An Italian Sojourn’ (2007)
Dario Castello: Sonata ottava d-moll; Alessandro Stradella: Sinfonia d-moll; Biagio Marini: Sonata a due d-moll; Pietro Antonio Locatelli: Sonata da camera F-Dur op. 6 Nr. 2; Arcangelo Corelli: Sonata C-Dur op. 5 Nr. 3; Giuseppe Tartini: Sonata pastorale A-Dur; Georg Friedrich Händel: Sonate g-moll HWV 364a; Francesco Maria Veracini: Sonata d-moll op. 2 Nr. 12

CD 2 ‚A German Bouquet’ (2009)
Johann Schop: Edelmann; Johann Heinrich Schmelzer: Sonate d-moll; Georg Muffat: Sonate D-Dur; Johann Philipp Krieger: Sonate d-moll op. 2 Nr. 2; Dietrich Buxtehude: Sonate C-Dur op 1 Nr. 5; Johann Sebastian Bach: Fuge g-moll BWV 1026; Philipp Heinrich Erlebach: Sonate Nr. 3 A-Dur; Johann Georg Pisendel: Sonate D-Dur; Johann Sebastian Bach: Sonate e-moll BWV 1023

CD 3 ‚A French Soirée’ (2011)
Jean-Baptiste Lully: 3 Entrées & Menuet aus dem Ballett ‚Royal de Flore’; François Couperin: Troisième Concert & 4 Tänze; Marin Marais: La Guitare, Prélude & Chaconne; Jean-Féry Rebel: Sonate huitième d-moll; Jean-Philippe Rameau: Quatrième Concert; Jean-Marie Leclair: Sonate G-Dur

CD 4 ‚An English Fancy’ (2012)
William Byrd: Sellinger’s Rownde; Tobias Hume: Captaine Hume’s Lamentation; William Lawes: Suite Nr. 8 D-Dur; John Jenkins: Suite Nr. 2 g-moll; Christopher Simpson: ‚The Little Consort’ (Suite g-moll); Thomas Baltzar: ‚John Come Kiss Me Now’; Matthew Locke: ‚For Several Friends’ (Suite B-Dur); Henry Purcell: 5 Ayres for the Theatre, Pavane B-Dur & Hornpipe aus ‚Abdelazer’

Çedille CDR 1002 (4-CD-Box, Vertrieb: Naxos)
Dauer: 5 Stunden
EAN: 735131100229

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