Go to content Go to navigation Go to search

The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Großmeister der klassischen Moderne

Die Kolumne: "Listening for the-listener": Christoph Schlüren - Folge VIV

von Christoph Schlüren  •  23. Juni 2013

Giorgio Federico Ghedini (1892-1965) war neben seinem Generationsgenossen Paul Hindemith derjenige lebende Komponist, von dem Sergiu Celibidache die meisten Werke dirigiert hat (glücklicherweise hat sich der Mitschnitt der hier erstmals für Tonträger eingespielten Contrappunti von 1968 mit dem Symphonie-Orchester der Rai Milano und den großartigen Solisten Franco Gulli, Bruno Giuranna und Giacinto Caramia unter Celibidache erhalten).

Doch nicht nur Celibidache, viele weitere große Dirigenten haben Ghedinis Musik in den 40er bis 60er Jahren aufgeführt: Victor de Sabata, Leopold Stokowski, Herbert von Karajan, Guido Cantelli, Artur Rodzinski, Carlo Maria Giulini, Lovro von Matacic, Lorin Maazel, Riccardo Muti, Claudio Abbado, Eliahu Inbal usw. Cantelli und Abbado waren Schüler Ghedinis, der auch – bei seltenen Gelegenheiten – ein exzellenter Kapellmeister war, und natürlich zählten wichtige Komponisten der späteren Avantgarde zu seinen Studenten, so Niccolo Castiglioni und Luciano Berio.

Er war zudem ein nachdrücklicher Förderer des jungen Goffredo Petrassi, dem Naxos mit derselben römischen Mannschaft ja erst jüngst eine CD mit hochinteressanten Orchester- und Chorwerken widmete (darunter die Ersteinspielung des frühen Divertimento in C [1930], die Partita, mit der Petrassi seinen Durchbruch hatte, die Quattro inni sacri und vor allem der grandios schaurige Leopardi-Vertonung Coro di morti [1941]; Naxos 8.572411), und es ist seiner Empfehlung zu verdanken, wenn man heute wieder auf Musik des blinden Komponisten-Außenseiters Almerigo Girotto aus Vicenza stößt.
Ghedini gehört wie der im selben Jahr geborene Victor de Sabata der Zwischengeneration der klassischen Moderne in Italien an: ein Jahrzehnt nach Respighi, Pizzetti, Malipiero und Casella, und ein Jahrzehnt vor Dallapiccola und Petrassi. Er war eher ein Spätzünder, zwar gibt es auch viele Kompositionen aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, doch erst in den zwanziger Jahren sind seine ersten bedeutenderen Werke entstanden wie etwa die (von Franco Gulli und Enrica Cavallo so unübertrefflich für Dynamic ersteingespielte und längst vergriffene) große Sonate in Es für Violine und Klavier.
Marinaresca e Baccanale entstand 1933 und zeigt ihn als phänomenalen Meister der Orchestration. Es ist sozusagen eine in zwei Großabschnitten aufgebaute, programmlose Tondichtung, einerseits gewissermaßen in der Nachfolge von Respighis römischem Triptychon, andererseits von einer ganz anderen expressiv-sachlichen, dissonant freitonalen Modernität mit einer eigenartigen Verschmelzung von obsessiven Rhythmen und motivisch strengem Kontrapunkt. De Sabata mit dem New York Philharmonic und sein großer Bewunderer Lorin Maazel im Januar 1956 bei seinem Deutschland-Debüt am Pult des Südwestfunk-Symphonieorchesters in Baden-Baden haben diesem Werk furiose, in Archiven erhaltene Darbietungen beschert. Es ist ein wildes Werk, im ersten Teil mit fast furchterregend faszinierenden Mischungen der tiefen Register, und wie alle Kompositionen Ghedinis äußerst heikel in Rhythmus und Intonation.
1939-40 ist Architetture entstanden, ein in sieben attacca ineinander übergehenden Abschnitten aufgebautes Konzert für Orchester mit solistischem Klavier (leider hat der Produzent es versäumt, den Pianisten dieser Einspielung zu nennen!), und es ist in seiner übergangslosen Eckigkeit, seiner Versachlichung des Ausdrucks und den zu motivischer Prominenz erhobenen neutralen Tonfiguren ein Manifest des musikalischen Kubismus. Das Besondere dabei ist, dass es dessen ungeachtet musikantisch fesselnd und nicht nur eigensinnig, sondern auch evolutiv in der Harmonik ist. Für das Orchester ist es in seinen wechselnden Metren mit verschoben wechselnden Einsätzen der Instrumentengruppen ein äußerst risikoreicher Ritt, der extreme Präsenz und gelassenen Groove fordert, um sowohl präzise als auch im Flow zu sein – was hier ganz ordentlich gemeistert wird, jedoch durchaus noch dessen harrt, souveräner verwirklicht zu werden. Architetture, das einst unter Celibidache in Berlin und Italien (mit Alexis Weissenberg) aufgeführt (und leider nicht aufgenommen) wurde, ist eines der entscheidenden Werke des italienischen Modernismus, und dabei ist es bei weitem nicht das gehaltvollste Werk in Ghedinis so vielgestaltigem, abwechslungsreichem Œuvre.
Weit substanzieller ist der Gehalt der späten Contrappunti für Streichtrio und Orchester von 1959-60, aus Ghedinis finaler Schaffenphase. Was für eine eigentümliche Harmonik von Beginn an – diese Akkordverbindungen, die auf dem Studium des italienischen Vorbarock ebenso basieren wir auf den Errungenschaften der klassischen Moderne, sind ein einzigartiges ‚Markenzeichen’ des Komponisten! Und dann die set-artige Aufbauweise, höchst kontrastreich, mit obsessiven Fünfer-Rhythmen, barockisierend entfesseltem Figurenwerk insbesondere der Solisten, und immer wieder die hinreißenden Wirkungen der manchmal fast holzschnittartig konturgebenden Orchestration. Wunderschön auch die Wirkung der Reprise im Kopfsatz, dem ein herrlich versonnenes Andante misterioso folgt. Hier hat der Komponist nicht die geringste Befürchtung, die sparsam gesetzten Töne könnten zu wenige, nicht tragfähig genug sein, und es stellt sich zeitweilig eine geradezu improvisatorisch träumende Innigkeit ein, die von wahrhaft zeitloser Modernität ist. Das Finale ist dann ein furioser Kehraus von überzeugend italienischer Oberflächlichkeit, in welchem sich Solisten und Orchester in virtuosem Auf und Ab austoben dürfen. Sehr befremdlich ist eine Kürzung im langsamen Satz (in einer Solopassage), die erscheint völlig unmotiviert und kann nur als Dummheit bezeichnet werden. Die Kürzung im Finale hingegen ist tolerabel, und doch frage ich mich, wieso dies – zumal es sich um kurze Abschnitte handelt – bei einer kommerziellen Erstaufnahme sein muss.
Es ist festzustellen, dass die Musiker die legendäre Celibidache-Aufnahme offensichtlich kennen – man merkt es an der klaren Vorstellung, die sie von diesem Werk haben, und eben nicht von Architetture (wie sinnlos da der freitonale Choralsatz im Finale wirkt, wenn keine Idee einer Zusammenhang stiftenden Phrasierung vorhanden ist!). Nun gelingt es nicht, zu einer entsprechenden Stringenz, Spannkraft, Verfeinerung, durchgehenden Präzision und rhythmischen Natürlichkeit durchzudringen, doch das war auch nicht zu erwarten. Es ist eine sehr solide Aufnahme geworden, zumal in Anbetracht der wirklich außergewöhnlichen Herausforderungen, die diese Partitur an Solisten und Orchester stellt. Dann wird eben gelegentlich geschleppt, und es hat nicht den Schwung und nicht die Tragfähigkeit im langsamen Tempo, die zu wünschen wären. Wirklich schade ist, dass sich die entrückte Magie in den aufsteigenden hohen Flageoletts am Ende des Mittelsatzes nur erahnen lässt. Trotzdem, die drei Solisten und auch das Orchester unter La Vecchia schlagen sich sehr respektabel. Und es mögen ja noch andere kommen, angeregt von dieser Aufnahme, die überhaupt einmal das Orchesterschaffen des hochoriginellen geheimen Großmeisters der italienischen klassischen Moderne in einer verdienstvollen ersten Folge zur Diskussion stellt, und wir sind gespannt, wie es weitergeht.

——CD-Details:
Giorgio Federico Ghedini
Marinaresca e Baccanale per orchestra (1933), Architetture. Concerto per orchestra (1939-40). Contrappunti per tre archi e orchestra (1960-61)
Paolo Chiavacci (Vl), Riccardo Savinelli (Va), Giuseppe Scaglione (Vc), Orchestra Sinfonica di Roma, dir. Francesco La Vecchia
Naxos 8.573006
Dauer: 66’26“
EAN: 747313300679

CD kaufen bei NAXOS direkt

Stöbern

Verwandtes / Ähnliches:

Archiv

Alle Artikel können im Archiv nachgeschlagen werden. Dort ist auch eine gezielte Suche möglich.