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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Wohin???

Schon wieder zwei neue "Kreisleriana"-Einspielungen: Welche soll man kaufen?

von Rainer Aschemeier  •  2. September 2011

Mit dem CD-Markt ist es wie mit dem Wetter: Über Wochen regnet es keinen Tropfen und dann schüttet es einen Monat lang wie aus Kübeln. So ähnlich verhält es sich derzeit auch mit Einspielungen des Klavier-Meisterwerks „Kreisleriana“ von Robert Schumann. Über Jahre gab es höchstens hier und da mal eine Neueinspielung, doch seit dem „Schumann-Jahr“ 2010 sind nicht weniger als 14 — in Worten: VIERZEHN! — neue Aufnahmen des Stücks erschienen.
Die Pianisten David Theodor Schmidt und Bruce Levingston fügen zwei neue hinzu. Was taugen sie?
www.the-listener.de wagt den „Vergleichscheck“.

Zu Beginn einige Sätze zu dem Stück, um das es hier geht: Die „Kreisleriana“ von Robert Schumann zählt zu den größten Meisterwerken der Klavierliteratur überhaupt und gilt zudem auch als ein Werk mit extremen spieltechnischen Schwierigkeiten. Es ist nicht nur voll von haarsträubend schnell zu spielenden Passagen, sondern wimmelt auch nur so von komplexer Kontrapunktik und rhythmischen Absonderlichkeiten. Es schreit geradezu nach Rubato, was in den meisten Fällen darin gipfelt, dass es der ausführende Pianist entweder übertreibt (dann wird’s schlimm, weil dadurch die Rhythmik eigentlich komplett über den Haufen geworfen wird) oder es mit Rubato so „gar nicht kann“ (dann wird’s ebenfalls schlimm, weil die leidenschaftliche „Kreisleriana“ dann zu einem reinen „Roboterstück“ verkommt).

„Kreisleriana“ von E. T. A. Hoffmann — ein Vorläufer des Musikfeuilletons

Der ungewöhnliche Titel des Stücks ist angelehnt an die gleichnamige Aufsatzsammlung Ernst Theodor Amadeus (E.T.A.) Hoffmanns, die in teils komödiantischen, teils recht kruden Episoden (den „Kreisleriana“ eben…) die Weltsicht und die Biographie des fiktiven und ziemlich wirren Kapellmeisters Johannes Kreisler ausbreitet. Sie gilt als ein Vorläufer des musikalischen Feuilletons, ist auch heute noch ein wärmstens empfohlener Lesetipp, und sie dürfte damals Schumann sehr nahe gestanden sein. Dieser hatte ja gerade seine eigene „Neue Zeitschrift für Musik“ auf den Markt gebracht und sah wohl nicht nur in Hoffmann so etwas wie einen Wesensverwandten, sondern wahrscheinlich auch in dem innerlich zerrissenen Protagonisten Kreisler, der übrigens auch zuvor schon in der irrwitzigen Novelle „Lebensansichten des Katers Murr“ Schumann zum Schmunzeln gebracht haben dürfte.
Die musikalischen „Kreisleriana“ wurden geschrieben in einer Zeit der unerfüllten Liebe Robert Schumanns zu der Pianistin Clara Wieck, die erst einige Zeit später seine Ehefrau werden sollte. Schumann schrieb in einem Brief an Clara davon, dass die „Kreisleriana“ sich „um einen Gedanken“ von ihr drehten. Musikwissenschaftler vermuten, dass es sich dabei um ein Dreitonmotiv aus Clara Wiecks Notturno op. 6/2 handelt; sicher sind sich die Gelehrten da aber nicht.
Besser „auf den Punkt“ bringt es ein anderer Brief Schumanns an seine geliebte Frau, in dem er niederlegt: „Meine Kreisleriana spiele manchmal! Eine rechte ordentlich wilde Liebe liegt darin in einigen Sätzen, und Dein Leben und meines und mancher Deiner Blicke.“ In der Tat dürfte „Kreisleriana“ eines der mitreißendsten und leidenschaftlichsten Klavierstücke überhaupt sein, und ich persönlich (diese Wertung sei mir gestattet) halte es für das herrlichste Stück Klaviermusik nach Beethoven.
Kontrastierend dazu beschäftigte sich Robert Schumann zu der Zeit der Komposition dieses frei und mehr oder weniger formlos geschriebenen Stücks mit den Präludien und Fugen Johann Sebastian Bachs (eine Tatsache, die übrigens sehr wenig bekannt ist!). Hört man die „Kreisleriana“ unter diesen Vorzeichen, versteht man, warum sie vor komplexer Kontrapunktik (z. B. im fünften Satz „sehr lebhaft“) nur so wimmeln.
Das Stück ist ein Kunstwerk ohne Gleichen. Es war seinerzeit die totale „Zukunftsmusik“, ist seiner Zeit unglaublich weit voraus und somit eigentlich ein Stück, auf das Strawinskys Formulierung angewendet werden müsste, die dieser einst für Beethovens „Große Fuge“ prägte: „Das ist zeitlos zeitgenössische Musik!“

Das Stück ist aber auch immens schwer und verlangt nach einem Pianisten mit schier perfektem technischen Können und gleichzeitig dem notwendigen großen empathischen Gespür für die vielen geradezu herzzerreissend schönen und sanften Stellen der Partitur. Meine Referenzeinspielungen sind daher die makellosen Aufnahmen von Alfred Brendel (seinerzeit Philips, derzeit bei DECCA wiederveröffentlicht) aus dem Jahr 1980 und die Einspielung von Jörg Demus (derzeit nur als Gesamteinspielung erhältlich über die Firma „membran“) aus den 1970-er-Jahren. Beide genannten Editionen treffen m. E. genau den Kern des Werkes, sind technisch absolut sensationell ausgeführt und auch emotional einfach hinreißend — wobei ich den etwas „kühleren“ Ansatz von Demus noch besser finde als die etwas „wärmere“ Einspielung Brendels.

Was taugen die Novitäten von Bruce Levingston und David Theodor Schmidt?

Zwei Neueinspielungen der Labels Sono Luminus (Bruce Levingston am Steinway-Flügel) und Profil/Edition Günter Hänssler (David Theodor Schmidt am C. Bechstein-Flügel) kommen derzeit beinahe zeitgleich auf den Markt und haben zumindest eins gemeinsam: Sie geben auf dem Cover nicht kund, dass es sich bei ihnen um „Kreisleriana“-Einspielungen handelt. David Theodor Schmidt beschwört unter dem Titel „Wohin?“ das Ideal der „romantischen Reise“ und Bruce Levingston stellt mit dem Titel „Heart Shadow“ ein anderes Stück gleichen Namens, welches sich ebenfalls auf seiner neuen CD befindet, in den Mittelpunkt. Der Titel soll aber wohl auch auf Schumanns leidenschaftliches Stück bezogen werden können, in das dieser schließlich auch sein ganzes Herzblut hineingelegt hatte, in einer Zeit, in der sich eher dunkle Schatten der Trennung über seine Liebe zu Clara Wieck gelegt hatten.

Bruce Levingston

Bleiben wir bei dieser CD: Bruce Levingston, der sonst eher als Neue Musik-Interpret von sich reden macht, hat hier meines Wissens seine erste CD mit Musik vorgelegt, die nicht aus dem 20. oder 21. Jahrhundert stammt. Das merkt man ihm leider an. Schumanns „Kreisleriana“ klingt bei ihm über Strecken wie ein verschollenes Meisterwerks von Erik Satie. Die Sätze pendeln in seiner Interpretation zwischen einer ganz merkwürdigen emotionalen Distanziertheit und schon beinahe übertrieben wirkender „Hingabe“ zum absoluten Rubato hin und her. Das ist, als würden sich Satie und Chopin Satz für Satz die „Klinke in die Hand“ geben. Zudem entwickelt Levingston eine Vorliebe für abstruse Phrasierungen. Wie sollte man sonst erklären, dass bei ihm die offensichtliche Melodielinie immer wieder „in den Keller sackt“ und der Bass unerklärlicherweise zum leitenden Element erklärt wird?

Bruce Levingston gibt sich auf dem Cover von "Heart Shadow" als eine Art "007" des Pianos — in Galarobe vor verträumtem Abendhimmel. Seine Einspielung steht in diametralem Gegensatz zur Optik.

Unter den Einspielungen der vier Pianisten, die mir hier zum Vergleich vorliegen, ist Levingston jedenfalls der einzige, der zu solch offensichtlich verfälschenden Phrasierungen greift. Ich denke, der Pianist wollte einmal zeigen, was aus diesem Stück noch alles „herausgekitzelt“ werden kann. Das ist zweifellos legitim aber im engeren Sinne auch wenig zielführend. Und niemand, der plant, sich nur eine „Kreisleriana“-Einspielung zuzulegen, wird mit diesem Ansatz glücklich werden. Zudem führt Levingstons Rubato-Verschossenheit auch zu ungewöhnlich langen Spielzeiten der langsameren Sätze: Sage und schreibe über elf Minuten dauert bei ihm der zweite Satz! Zum Vergleich: Brendel: acht Minuten, Schmidt: knappe acht Minuten, Demus: nur sieben Minuten. Das sind über vier Minuten Spielzeitunterschied zwischen Demus und Levingston! Das ist schon etwas extrem.
Alles das sind aber interpretatorische Gesichtspunkte, bei denen es durchaus Menschen geben mag, die das auch schön finden können. Doch in Sachen Technik sind die „Kreisleriana“ eben Stücke, bei denen der Pianist mal „die Hose runter lassen“ muss. Soll heißen: Wer spieltechnisch nicht echtes Spitzenniveau aufweist, wird von diesem Feuerwerk der Kontrapunktik überrollt und erbarmungslos entlarvt. Levingston passiert das leider bereits im ersten Satz. Hier erklingt definitiv nicht jeder Ton! Das heißt, der Interpret ist dem immensen Schwierigkeitsgrad dieser Musik nicht gewachsen, „verschluckt“ beziehungsweise „verschleift“ in seinem Spiel die Einzeltöne, sodass man die Läufe nicht mehr als sauber gespielt bezeichnen kann. Das ist leider ein echter und nicht zu widerlegender Offenbarungseid, der auch mit einem etwaigen exotischen Interpretationsmodell nicht schöngeredet werden kann.

Die beiden anderen Stücke auf der CD sind schöne, wenn auch nicht unbedingt essentielle Beispiele Neuer Musik aus dem 21. Jahrhundert von Starkomponist Charles Wuorinen sowie der weniger bekannten Komponistin Lisa Bielawa.
Der Sound ist insgesamt leider auch nicht wirklich gut: Das Klavier wirkt in den Höhen zu wenig präsent, während die Mitten und Bässe ein wenig „dumpf“ klingen. Das ist zwar noch eine sehr gut hörbare Klaviermusikaufnahme, jedoch kein Hifi- oder gar „High End“-Niveau.

David Theodor Schmidt

Kommen wir nun zur neuen deutschen Klavierhoffnung David Theodor Schmidt, der derzeit gazettenübergreifend dermaßen über den Klee gelobt wird, dass man von ungewohnter Begeisterung sprechen kann. Das letzte Mal hatte es eine solche Pressehysterie wahrscheinlich anno 2004 nach dem CD-Debüt von Martin Stadtfeld gegeben. Die Süddeutsche schrieb über Schmidt, er sei „der neue Schwarm aller Klavierbegeisterten“, das Musikmagazin Rondo wagte die Adjektive „meisterlich“, „packend“ und „ergreifend“ als Beschreibung des Schmidt’schen Klavierstils heranzuziehen und die „Financial Times Deutschland“ erlebte beim Hören seines Spiels ein „Klangerlebnis“.

In gedeckten Farben und mit einem Hauch von romantischer Naturverbundenheit unterstützt die Covergestaltung der "Kreisleriana"-Einspielung von David Theodor Schmidt das Motto der CD: "Wohin?".


Mit den „Kreisleriana“ muss nun auch David Theodor Schmidt Farbe bekennen. Von Beginn an tönt sein Spiel erstaunlich viel sonorer und kraftvoller im Anschlag als das Levingstons. Aber (!) auch Schmidts Rhythmik im ersten Satz (insbesondere bei den leisen Passagen) ist alles andere als sicher, und wirkt vor allem überhaupt nicht schlüssig. Mit einem merkwürdig „unkonkret“ wirkenden Rubato windet und wuselt sich Schmidt durch den ersten Satz und offenbart dabei einen vergleichsweise ruppigen Ton, der sicherlich nicht den Gipfelpunkt der pianistischen Sensibilität darstellt. Auch die Rhythmik zum Satzbeginn des zweiten Satzes kann mich leider gar nicht überzeugen. Die „Innigkeit“ (Schumann titelte hier „sehr innig und nicht zu rasch“), die Verspieltheit und der „Fluss“ der Musik will bei Schmidt einfach nicht recht zünden. Erst nach etwa 1.30 min. Spielzeit hat man den Eindruck, dass er sich „gefangen“ und nun seine „Linie“ gefunden hat. Der massive Ausbruch zur Mitte des Satzes wirkt dann wieder etwas bemüht.
Es ist allerdings sehr schön, auf dieser Aufnahme mal einen Bechstein-Flügel serviert zu bekommen, der noch einen richtig kernigen, eigenständigen Klangcharakter hat und zudem von der Tontechnik wirklich großartig aufgezeichnet wurde. Das ist wirklich eine Wohltat, in Zeiten, in denen auf jeder zweiten CD der ewig gleiche „Steinway-Sound“ aus den Boxen kullert.
Ich könnte meine Detailanalyse des „Kreisleriana“-Vortrags von David Theodor Schmidt hier Satz für Satz weiterführen, belasse es aber bei der umfassenden Feststellung: David Thedor Schmidt musiziert Schumanns „Kreisleriana“ über Strecken wie eine Etüde. Seine Rhythmik ist häufig nicht schlüssig und (was schlimmer ist) auch nicht sicher. Sensibilität ist ebenfalls nicht so seine Sache. Leider ist also auch diese CD nicht ansatzweise zu vergleichen mit den meisterlichen Vorträgen von Brendel oder Demus, obwohl auch David Theodor Schmidt sich redlich bemüht, einen eigenen, persönlichen Ansatz und seinen eigenen „Sound“ zu finden.

Als „Draufgabe“ zu dieser CD gibt es einige sehr schöne Bearbeitungen von bekannten Schubert-Liedern für Klavier zu zwei Händen. Franz Liszt hat diese selten zu hörenden Transkriptionen angefertigt.
Etwaige „Gefühlsduselei“ ist auch hier nicht Schmidts Ansatz. Der Anschlag bleibt kräftig bestimmt und eher unterkühlt. Auch hier kann festgestellt werden, dass die dynamische Bandbreite die sich dadurch ergibt, eher gering ausfällt.

Fazit

Beide „Kreisleriana“-Novitäten haben so ihre Probleme. Gäbe es nur diese beiden Einspielungen, würde ich zu der (mit Abstrichen) empfehlenswerten von David Theodor Schmidt raten. Aber allein in den letzten 18 Monaten gab es ja 14 Neuaufnahmen des Stücks. Da wird sich, mal ehrlich gesagt, etwas Überzeugenderes finden lassen. Und falls nicht: Alfred Brendels oder Jörg Demus‘ Aufnahmen der „Kreisleriana“ stellen nach wie vor günstig zu habende und doch äußerst wertvolle Tondokumente dar, die man nach wie vor wärmstens empfehlen kann.

((Die Hörexemplare für die Besprechung der beiden CDs wurden uns freundlicherweise vom Vertrieb beider Labels, der Firma Naxos, zur Verfügung gestellt.))

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